Immer bei mir
Von: Elisha
Es passierte an der Haustür. Der Vater war die drei Stufen zum Eingang hinaufgestiegen, um mit dem Finger auf den messingumrahmten Klingelknopf zu drücken. Sein Blick wurde abgelenkt von dem Keramikschild, auf dem zwei Bären die Namen der hier Wohnenden verkündeten. Mama-Bär Sonja und Baby-Bär Svenja.
Über der rechten Ecke des Schildes war eine wasserfeste Folie gespannt, auf der per Hand mit einem dicken schwarzen Stift der Nachname, also Hauser, gekritzelt war. Wenn man sich auskannte, konnte man die Umrisse von Papa-Bär darunter erahnen. Sein Blutdruck schnellte in die Höhe, sein Fuss verpasste die letzte Stufe, und mit Getöse stürzte der Vater die Treppe hinunter, während er die Blumentöpfe am Rand mit sich riss. Bei der Landung unten brüllte er aus Leibeskräften, und die Tür öffnete sich.
„Mein Gott, Horst!“, rief seine Noch-Ehefrau und sprang die Stufen hinab. „Bist du verletzt?“
„Natürlich!“ Der Vater rieb sich diverse Stellen an Hüfte und Po.
„Dein Fuss liegt so verdreht. Kannst du ihn noch bewegen?“
Er versuchte es, schrie auf: „Bist du des Wahnsinns?“
„Halte durch! Ich rufe den Krankenwagen.“
Wenig später sass Svenja im Flur des Spitals, betrachtete ihre Eltern aus ein paar Metern Entfernung. Ursprünglich war der Plan gewesen, dass ihr Vater sie wie jedes zweite Wochenende mit in seine Wohnung holte. Sie hatte stattdessen vorgeschlagen, dass sie gemeinsam im Garten ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee trinken wollten, und ihre Mutter hatte sich gern darauf eingelassen.
Vielleicht würde das den Weg frei machen für einen Spaziergang zu dritt, hatte sie sich gedacht. Jetzt war alles anders gekommen, aber das konnte ja wieder eine andere Tür öffnen. Denn ihr Vater sass mit gekrümmtem Rücken in einem Rollstuhl des Spitals, sein kompliziert gebrochener Fuss vor sich auf der Ablage. Ihre Mutter huschte um ihn herum, besorgte ihm ein Getränk, redete mit den Ärzten, fragte nach einem Kissen. Svenja fischte eine Kaugummikugel aus ihrer Jackentasche und schob sie sich in den Mund. Sie lächelte, während sie kaute.
Ihre Mutter winkte sie zu sich herüber. „Dein Vater soll heute Nacht hier bleiben“, setzte sie ihre Tochter ins Bild. „Er wird nachher noch operiert.“
Ihr Vater verzog das Gesicht. „Sie wollen den Bruch nageln.“ Ihre Mutter tätschelte ihm die Hand. Das lief doch fantastisch.
„Kann ich mir ein Eis holen?“, fragte Svenja und machte sich auf den Weg. Sie liess sich Zeit, fuhr mit dem Fahrstuhl in den obersten Stock und wieder hinunter. Als sie sich wieder näherte, sassen die beiden abgeschieden in einer Ecke im hinteren Teil des Flurs.
„Weisst du, woran ich gedacht habe?“, fragte der Vater und wimmerte leise, weil er den Fuss etwas angehoben hatte. „Trotz unserer Trennung bist du immer da.“
„Ich bin auch gern für dich da“, sagte die Mutter und fasste seine Hand.
„Als ich den entzündeten Blinddarm hatte, hast du die Ambulanz geholt, bevor er durchbrechen konnte.“
Die Mutter nickte, drückte seine Hand sanft.
„Und als ich auf Svenjas Spielplatz von dem Hund gebissen wurde, den der ungepflegte Mann von der Leine gelassen hatte, hast du mit mir auf der Bank gesessen.“
„Genau. Ich habe den Mann dann laut angeschrien.
Svenja war jetzt so nahe gekommen, dass sie die Worte gut verstehen konnte. Es trennte sie nur noch eine riesige Zimmerpflanze.
„Und auch bei dem Hammer, den ich mir auf den Finger geklopft habe, standest du neben mir und hast die Leiter gehalten.“
„Das stimmt. Und jetzt bin ich auch bei dir, bis zur Operation.“ Sie streichelte mit der freien Hand über seine.
Der Vater zog sie vorsichtig heraus und legte sie auf ihren Arm. „Weisst du, was ich glaube?“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Du bringst mir Unglück. Gut, dass wir uns getrennt haben.“
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