Spiegelfechtereien
Von: Karl Feldkamp
Wahre Lebenskünstler begehen bekanntlich auch Alltage wie Feiertage. Doch wenn einer der ersten Wege an jedem Alltagsmorgen meines fortschreitenden Rentnerlebens ins Bad führt, gehört schon eine gehörige Portion Kunst, Humor und Selbstbetrug dazu, die Lebensqualität im Alter zu erhöhen.
Nicht zuletzt deswegen stehen zunehmend mehr Herrenduftwässerchen auf dem Regal vor dem breiten goldbronzegerahmten Spiegel meines Bades. Dabei war ich einst strikter Befürworter des natürlich herbmännlichen Geruchs, der allenfalls durch den Gebrauch von Seife, dezentem Aftershave und Haarwaschmitteln leicht entfremdet werden durfte.
Nun gut, ältere Herren riechen gelegentlich nicht mehr ganz so frisch. Kürzlich stieg ich in die U-Bahn. Auf einer der seitlichen Sitzbänke sassen vier Jugendliche. Mit Blick auf meine grauen Haare knurrte einer von ihnen: „Jetzt stinkts nach Verwesung.“ Stand auf und bot mir seinen Sitzplatz an.
Pietätvoll sind solche Bemerkungen nicht. Aber wenn ich mir den Alten vor mir im Spiegel so ansehe, runzelt sich dessen Gesichtshaut heftig und zwischen Kopf und Oberkörper hat sich über die Jahre eine Art natürlicher Halskrause entwickelt. Ein hautstraffendes Mittelchen könnte sicherlich zu einer oberflächlichen Verjüngung beitragen. Vielleicht steht auch das bald auf meinem Regal.
Da ich mich vor dem Spiegel aber noch nicht so alt fühlen möchte, muss mein Partner im Spiegel eindeutig der Ältere von uns Beiden sein. Nicht zuletzt deswegen warte ich schon lange darauf, dass er mir endlich das Du anbietet. Um mich von ihm distanzieren zu können, zog ich es nämlich irgendwann wieder vor, ihn zu siezen.
Nun gut, es gab einst Zeiten, da habe ich ihn selbstverständlich geduzt. Da war er mir eher viel zu jung und zu klein, während ich mir vor dem Spiegel längst grösser und wesentlich erwachsener vorkam. Doch das ist verdammt lang her. Lange her ist es auch, als mich morgens sein unglückliches Pickelgesicht ansah. Da musste ich mir von meiner Mutter viel zu oft den Spruch, wahre Schönheit komme von innen, anhören. Leider setzte sich die Schönheit erst Jahre später nach aussen durch, während sie sich in letzter Zeit von Jahr zu Jahr doch wieder zurückzuziehen scheint.
Als könne der Alte im Spiegel meine Gedanken lesen, grinst er hämisch und schüttelt den bereits reichlich kahlen und vor allem grauhaarigen Kopf. Mit seinen etwas trüben Altherren-Augen gelingen ihm durchbohrende Blicke nicht mehr so recht. Im Gegenteil, seine müden Blicke deuten dezent an, er wolle gar nicht so genau hinsehen.
Da mein Gedächtnis ohnehin nachlässt, habe ich mir angewöhnt, nur noch Augenblicke einzufangen und sofort wieder frei zu lassen. Und die erfreulichen Augenblicke versuche ich mir einzuprägen. Wenn mich z. B. eine junge Frau anlächelt, ich das Mitleid in ihrem Lächeln ausblende und ihr hinterherlächele, in der falschen Hoffnung, sie würde sich noch einmal nach mir umsehen. Wie sich von selbst versteht, vermeide ich es, zu überprüfen, ob sie sich wirklich umsieht. Reine Einbildung bekommt mir nicht nur in diesem Fall einfach besser.
Die leicht getrübten Spiegel-Augenblicke lassen eine gewisse Altersmilde vermuten, die mit äusserst tröstlichen Realitätsverlusten einhergeht. Und wenn ich ganz genau hinsehe, weiten sich seine getrübten Augen in letzter Zeit sogar häufiger zu Angstaugen, die offenbar manche klare Erkenntnis befürchten. Zum Glück drückt mein Gegenüber bei solchen Gelegenheiten immer häufiger beide Augen zu, während ich beim Blick in den Spiegel gern auf meine Gleitsichtbrille verzichte.
Es ist eben eine stille und geheime Zwiesprache, die wir jeden Morgen ein wenig ausgiebiger pflegen. Zum Glück haben wir beide noch ausreichend Humor, auch wenn ich um seine Augen immer öfter tiefliegende dunkle Trauerränder zu entdecken meine.
Nunja, ein bisschen traurig ist es schliesslich schon, sich von Lebenstag zu Lebenstag zu verabschieden. Dabei hätte ich vor einiger Zeit weder meinem Spiegelpartner noch mir zugetraut, dass wir zu Sentimentalitäten neigen. Vielleicht sollten wir doch allmählich zum Du übergehen. Irgendwie braucht man sich doch noch.
In jedem Fall aber tröste ich mich, dass selbst jüngere Realisten nur von der Illusion leben, keine Illusionen zu haben.
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