Niederschlagsmenge
Von: Elisha
Eigentlich war Romina hart im Nehmen. „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung“, war einer ihrer Lieblingssprüche, wenn ihre Freundinnen sich wunderten, dass sie bei Wind und Wetter durch die Gegend streifte. Daran war natürlich auch Anka schuld. Eine Hündin fragt schliesslich nicht, ob die Sonne scheint beim Gassi gehen, und so lästerten die Nachbarn gern über das oft zerzauste Paar.
Mal ein Nieseltag oder ein heftiger Guss war also nie ein Problem gewesen. Inzwischen war es aber tagelang so, dass die Wolken schwer und unberechenbar über der Landschaft hingen. Romina sehnte sich nach einem Sonnenbad auf der Liege im Garten, aber stattdessen endete ein in der Regenpause gestarteter Spaziergang viel zu oft in einem Sprint auf den letzten Metern. Und heute hatte sie nach einem Blick in den Himmel gleich aufgerüstet zu der Regenjacke aus Gummi und der beschichteten Hose, und trotzig hatte sie sich einen Vinylhut auf den Kopf gesetzt.
„Anka, jetzt komm endlich!“ Die Hündin hatte sich zunächst geweigert, das Haus zu verlassen, und nur vorsichtig die Schnauze unter dem Türbogen vorgestreckt. Zwei dicke Tropfen liessen sie zusammen zucken, und mit zweifelndem Blick war sie nach den ersten Schritten stehen geblieben.
„Ja, ich meine es ernst!“ Romina rollte mit den Augen. „Immer dasselbe: erst willst du nicht raus, dann willst du nicht rein!“ Sie ging los im Vertrauen darauf, dass Anka hinter ihr hertrotten würde. Es dauerte auch nicht lang, da hatte Anka sie eingeholt, schnüffelte neugierig am Strassenrand und fiel dann in einen leichten Trab.
„Du hast es so gewollt!“ Jetzt steigerte auch Romina ihr Tempo, lief leicht die Strasse entlang bis zum Waldrand.
Es war ein gutes Gefühl, den Körper bei jedem Schritt zu spüren, und sie genoss die Empfindung in den Muskeln, wie sie sich dehnten und zusammen zogen. Und dazu die würzige Luft nach Kräutern am Wegesrand und Waldboden. An der Lichtung blieb sie stehen und schwenkte eine kleine Tüte. Aber Anka dachte gar nicht daran, ihre Toilette zu verrichten, sondern schnüffelte aufgeregt von einem Ort zum anderen. Ihr Fell triefte vor glitzernder Tropfen.
Beschleunigung hatte also keinen Zweck, das Leben stagnierte. Der Missmut, der sich in den letzten Tagen in Romina festgesetzt hatte, kam wieder zum Vorschein. Immer der Regen. Kein Garten, keine Gäste. Allein, weil vorsichtig. Um keinen anzustecken, um sich nicht anzustecken. Endlich setzte sich der Gedankengang zusammen, ergab Sinn.
„Und wie lange soll das noch so weiter gehen?“, hatte sie ihren Arzt gefragt. Der Mann, der noch jung gewesen war, als sie zur ersten Behandlung kam, hatte mitfühlend gelächelt.
„Es dauert noch etwas“, hatte er leise gesagt. „Ja, Sie sollten den Schutz durch die Impfung bekommen, aber da sind Sie nicht die einzige. Ich habe siebenhundert Patienten wie Sie – und nur dreissig Impfdosen pro Woche. Wie soll ich entscheiden?“
Anstatt auf dem Weg zu bleiben, strolchte Anka jetzt immer mehr seitlich auf die grosse Wiese. Der Boden hatte sich mit Wasser voll gesogen, aber Romina stapfte unbeirrt hinter ihr her. Bis zu den Knöcheln sank sie bei jedem Schritt ein, aber sie merkte es gar nicht, so vertieft war sie in ihre Gedanken.
„Bemerkenswert ist, dass man eine siebte Dosis aus dem Fläschchen ziehen könnte“, hatte der Arzt weiter geredet. „Das geht aber nur mit bestimmten Kanülen, vorn mit einer anderen Spitze. Die gibt es aber kaum noch zu bestellen, deshalb klappt es gewöhnlich nur für sechs Dosen.“ Er hatte traurig und müde gewirkt.
Beim Ende der Runde sahen Romina und Anka schlimmer aus denn je. Es gab kaum eine Stelle an ihrem Körper, der trotz Schutzkleidung trocken geblieben war, und Anka stand mitten im Wohnzimmer und wollte sich gerade genüsslich die Schlammspritzer aus dem Fell schütteln.
„Wag es nicht“, schrie Romina auf. „Ab ins Bad mit dir!“ Sie stiegen beide die Treppe hinauf, Abdrücke aus Dreck auf jeder Stufe hinterlassend. Da war wohl Putzen fällig.
„So, jetzt wird gebadet!“, rief sie im rauen Ton weiter, zog sich die Sachen vom Leib und warf sie in die Duschtasse. Anka ergab sich ohne Widerstand ihrem Schicksal und sprang in die Badewanne daneben. Romina begann, sie mit dem Wasser abzubrausen und Erdklümpchen aus dem Fell zu spülen. Wie gern würde sie jetzt stattdessen in der Wanne liegen, in einem duftenden, heissen Bad! Sie schloss nur kurz die Augen. Das Festnetz klingelte.
„Du bleibst hier!“ Romina wollte sich nicht ausmalen, was der triefende Hund im Haus anstellen konnte und schloss die Badezimmertür hinter sich. Dann sprang sie, nackt wie sie war, die Stufen hinunter zum Telefon und nahm etwas atemlos ab.
„Praxis Doktor Wiedermann“
„Ja bitte?“
„Ich soll Ihnen sagen, wir haben die richtigen Kanülen heute. Siebte Dosis. Können Sie kommen?“
Romina schluckte. „Keine Frage. Wann soll ich da sein?“
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