Ein Fünkchen Wahrheit
Von: Elisha
Als Jessica Funk mit ihren ehemaligen Kollegen an dem Kneipentisch sass, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit ein wenig leichter. Endlich wieder Lachen, wenn auch nicht so unbeschwert wie früher, endlich mal wieder Geschichten austauschen von dem täglichen Wahnsinn im Büro. Wie hatte sie solche Erzählungen vermisst?
Als sie sich hatte beurlauben lassen, um Jakob nach dem Schlaganfall zu pflegen, hatten die Kollegen hoch und heilig versprochen, in Kontakt zu bleiben. Aber natürlich hatten sie es gescheut, von sich aus anzurufen, weil sie nicht wussten, wie sie mit ihr reden sollten. Zu gruselig war die Vorstellung, dass ein Mann aus der Mitte des Lebens gerissen wurde und alles neu lernen musste. Damit wollte keiner etwas zu tun haben, oder zumindest sich nicht aktiv in eine Position begeben, in der man sich damit auseinandersetzen musste.
So hatte Jessica nur durch Zufall von dem Treffen nach Feierabend erfahren und war einfach zu ihnen gestossen. Erstaunlich schnell hatten sie ihre alten Muster wiedergefunden. David wurde wieder aufgezogen, weil er die Zeit lieber mit Gesprächen am Kaffeeautomaten verbrachte als mit der Dokumentation seiner Fälle, Carola war bei einem Online-Meeting eingeschlafen, was aber kaum aufgefallen war, weil ein Bücherstapel den grössten Teil des Bildes verdeckt hatte, und Jessica wurde mit ihrem alten Spitznamen bedacht.
„Wie gefällt dir denn dein Urlaub, Fünkchen?“, hatte Walter dahin geworfen, und alle hielten plötzlich den Atem an. Bei der Mutterschaft waren solche schnodderigen Fragen üblich, aber bei der Pflege eines invaliden Mannes? Auch Jessica stutzte, fasste sich und sagte: „Wir erholen uns beide prächtig. Wollt ihr noch ein Bier?“
Sie war froh, dass David ihr angeboten hatte, sie später nach Hause zu fahren, so dass sie nicht auf Alkohol verzichten musste. So bestellte sie ihren dritten Cocktail und taute immer mehr auf.
„Komm, Fünkchen, ich nehme mal lieber deinen Arm auf dem Weg zum Auto.“ David stützte sie übertrieben, aber Jessica genoss die Anwesenheit eines Menschen neben sich. Sie spürte vage die Körperwärme durch seinen und ihren Jackenärmel hindurch und bemerkte, dass ihr Puls schneller schlug. Galant öffnete er die Beifahrertür und platzierte sie vorsichtig auf dem Sitz.
„Ich bin das gar nicht mehr gewöhnt, dass jemand für mich sorgt“, sagte sie, um ihr gerötetes Gesicht zu begründen.
David starrte sie an, jetzt vom Fahrersitz aus. „Du hast Besseres verdient.“ Sein Blick war eindringlich und Jessica nicht unangenehm. Sie sah in sein Gesicht, betrachtete seine grauen Augen mit den langen Wimpern und seine wohlgeformten Lippen und fragte sich, wie es wäre, mit der Hand über seinen glatt rasierten Schädel zu streichen. Eilig blickte sie zur Seite.
„Sollen wir noch etwas reden, bevor wir fahren?“, fragte David. „Möchtest du vielleicht ernsthaft was loswerden, nach all den Scherzen?“
Jessica schluckte. Das war das letzte, wonach sie sich sehnte. Reden über all das, was in ihr brodelte? Die vielen kleinen Tätigkeiten, die den Alltag bestimmten, Handreichungen, ermunternde Sprüche, die ständige Aufmerksamkeit, die den Tag lang auf Jakob gerichtet war?
Zunächst war ihr die Leere in sich selbst nicht aufgefallen, hatten Jakobs kleine Fortschritte sie davon abgehalten, überhaupt zu fühlen, wie unglücklich sie war. Doch je mehr es ihr zu dämmern begann, wahrzunehmen, was ihr denn fehlte, desto mehr fühlte sie sich schuldig, nicht einfach nur dankbar sein zu können, dass Jakob es wieder besser ging. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht reden.“
Als hätte David ihren Gedanken gelauscht, legte er den Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich hinüber. Und bevor Jessica gewahr wurde, was sie tat, streckte sie ihre Hand aus und strich über sein Gesicht und dann auch über seinen Oberkopf. Winzige Borsten streckten sich ihrer Handfläche entgegen, und sie stöhnte auf, als seine Lippen ihre berührten. Nur kurz war der Kuss, fast angedeutet, aber für Jessica genug, um von Gefühlen überschwemmt zu werden. Wie hatte sie sich danach gesehnt, wieder geküsst zu werden, voller Genuss und Leidenschaft! Wie hatte sie es vermisst, Mund an Mund zu spüren, Nase an Nase, Haut an Haut! Sie sehnte sich nach seiner Zunge, wollte seinen Speichel schmecken, sich ihm hingeben. Aber etwas in ihr hielt inne, und sie rückte ein wenig von ihm ab.
„Entschuldige, habe ich da was falsch verstanden?“, fragte David besorgt.
Jessica sah in seine verschreckten Augen und bemühte sich, Ordnung in ihre Gefühle zu bringen.
„Du bist ein netter Kerl“, sagte sie leise.
„Autsch“, meinte er, „nett ist die kleine Schwester von besch - eiden, sagen wir mal.“
„ So meine ich das nicht.“ Sie rutschte auf dem Sitz herum. „Du bist ein toller Mann, und du hast Signale gelesen. Nur, eigentlich waren sie nicht für dich bestimmt.“
„Es geht um Jakob?“
„Natürlich geht es um Jakob. Von ihm möchte ich Küsse und Berührungen.“ Tränen strömten aus ihren Augen.
Er nickte, als wenn er es befürchtet hatte. Dann zuckte er mit den Schultern. „Ach Fünkchen, hab Geduld. Mehr weiss ich auch nicht dazu.“ Er schnallte den Sicherheitsgurt um und liess ihn einrasten. „Dann bringe ich dich jetzt mal wieder nach Hause. Okay?“
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