Eine schrecklich nette Familie
Von: Elisha
Die Einladung zum Essen war nicht zu einem bestimmten Anlass, sondern ein lockeres Zusammentreffen. Cindy hatte ihren neuen Freund Joel schon ihren Eltern vorgestellt, und heute waren noch ihre Schwester Marlene und ihr Freund mit seinen Eltern dabei. Cindy pfiff wohlgelaunt, weil sie sich wohl fühlte bei Familienfeiern, aber Marlene wartete mit schweissnassen Händen auf ihren Liebsten und seine Familie.
„Sie sind beide Doktoren“, flüsterte sie ihrer Schwester zu. Cindy nickte, weil es noch nicht lange her war, dass sie sich ausgesöhnt hatte mit ihrer Herkunft. Ihr Vater hatte als Arbeiter angefangen und sich in seinem Leben in der Antriebstechnik ein wenig hoch gearbeitet, während ihre Mutter als Verkäuferin ihren Beitrag zum Familieneinkommen erwirtschaftete.
Noch vor ein paar Monaten hatte sie sich minderwertig gefühlt bei ihren Bekannten an der Universität mit den eindrucksvollen Professionen ihrer Eltern, bis ihre Freundin Helen sie bewundernd ansah und laut ausrief: „Dann musstest du dir ja alles selbst erarbeiten! Du kannst stolz sein auf dich, dass du das geschafft hast.“
„Kopf hoch, Marlene. Alex haben sie doch gut hingekriegt.“
Cindy mochte ihren Beinahe-Schwager, hatte mit Freude festgestellt, wie seine Blicke fasziniert jeder Bewegung ihrer Schwester folgten. Auch jetzt, als er mit seinen Eltern das Restaurant betrat, schien er es kaum erwarten zu können, neben Marlene Platz zu nehmen.
Seine Bewegungen erschienen aber nicht so flüssig wie sonst, und die ausgiebige Knutschszene, die sonst das Zusammentreffen einläutete, liessen sie diesmal aus. Seine Eltern zögerten, bevor sie jeden begrüssten und sich dann auf die letzten freien Plätze am Tisch niederliessen. Immer wieder sah Alex‘ Mutter auf Joel und runzelte unwillkürlich die Stirn.
Mit einem fragenden Blick wandte sich Cindy ihrem Freund zu, in vager Erwartung, dass er noch Eigelb vom Frühstück auf dem Hemd oder einen Riss in der Jacke hatte. Sie schüttelte den Kopf, alles war perfekt. Sie strich ihm über die schwarzen Löckchen und warf ihm einen Kuss durch die Luft zu.
„Woher kommen Sie?“, fragte Alex‘ Mutter steif, und Cindy rollte mit den Augen.
„Aus Basel“, antwortete Joel geduldig.
„Nein, ich meine: wo waren Sie vorher?“
„In Zürich.“
„Und Ihre Eltern?“
„Die sind aus Winterthur.“ Er grinste. „Aber mein Grossvater hat in Ghana gelebt.“
Alex hatte die Schultern hochgezogen, und seine Ohren färbten sich auffällig rot. „Tut mir leid, Joel, meine Mutter ist nicht besonders taktvoll“, flüsterte er.
„Kein Ding, Mann!“
Cindys Eltern starteten ein paar unverfängliche Themen, und bis das Essen serviert wurde, waren sie alle angenehm in Gespräche vertieft, bis Cindys Vater Alex auf die Schulter klopfte und fragte: „Wie gefällt dir denn die Lehre zum Recyclisten?“
Alex‘ Mutter heulte auf, und sein Vater sagte: „Wie konntest du dich nur dafür entscheiden? Du bist so eine Enttäuschung! Im Müll zu wühlen …“
Cindys Familie war sprachlos, und Alex duckte sich noch mehr zusammen. Marlene drückte ihm die Hand, und Cindy fing sich langsam wieder: „Eine sinnvolle Arbeit! Rohstoffe aus Abfall machen, das ist doch das, was die Schweiz braucht.“
„Und darfst du auch bald Stapler fahren?“, setzte jetzt auch Joel ein.
„Erzähl doch mal, hast du schon Bizarres im Müll entdeckt?“, fragte Cindys Mutter.
Während seine Eltern schweigend vor sich hin kauten, war Alex plötzlich der Star des Tages und gab eine Anekdote nach der anderen zum Besten. Allmählich richtete er sich auch wieder auf und lächelte. Er blieb auch noch sitzen, als seine Eltern sich kühl verabschiedeten und aus dem Restaurant stolzierten.
„Was bin ich froh, dass ich dich gefunden habe“, flüsterte er Marlene ins Ohr und legte seinen Arm um ihre Schulter, „dich und deine Familie. Ich glaube, ich bin angekommen.“
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