Katharina
Von: Elisha
Wie eine grosse Puppe sitzt sie vor mir auf dem Stuhl, und ich ziehe ihr die Bluse über den Kopf. Vorsichtig befreie ich ihre Arme aus den engen Ärmelschläuchen, und sie lacht dazu.
Eben noch wollte sie nicht ins Bett, und wir sind im Garten unten gewesen, haben auf der Bank gesessen und Vögel beobachtet.
„Da, eine Taube. Siehst du die auf dem Dach?“
Katharinas Blick folgte meinem Finger.
„Und hörst du das? Das ist eine Elster, und dort drüben auf dem Baum sitzt noch eine.“
Wir gingen noch ein paar Schritte, bemerkten die Blumen in den kleinen Beeten, und stolz sagte sie mir die Namen: „Astern, Dahlien, Hortensien ...“
Gelernt ist gelernt.
Jetzt ist sie müde, und Zeit für unser Spiel.
„Und jetzt?“, fragt sie. „Ausziehen?“
Ich nicke. „Die Bluse haben wir schon geschafft.“
Sie sieht mich fragend an, hat keine Ahnung, was nun passieren wird. Oder soll.
„Jetzt kommt das Hemd dran.“ Immer derselbe Ablauf.
Sie zieht probeweise an ihrem Unterhemd, zögert.
„Kalt.“
Damals, während der Schwangerschaften, habe ich mich vor einem behinderten Kind gefürchtet. Vielleicht hätte ich es abgetrieben, wenn mein Fruchtwasser bedenklich gewesen wäre. Ich hätte es mir einfach nicht zugetraut, die ganze Kraft, und das ein Leben lang! Als meine Freundin ihren Lukas bekam, habe ich sie bewundert. Irgendwie schaffte sie es, seinen Bedürfnissen gerecht zu werden und ihm gleichzeitig einen normalen Platz zu schaffen in der Familie, neben den Geschwistern, die nicht weniger eine Mutter brauchten.
Lang ist es her, meine eigenen Kinder sind aus dem Haus.
Katharina späht in ihr Dekolleté. „Dann bin ich ja nackisch.“ Mit einem „sch“.
Ich lache, genau wie sie. Wie jedes Mal. Schon längst habe ich ihr Nachthemd unter dem Kissen hervorgeholt und sage verheissungsvoll:
„Dafür bekommst du ja ein Negligé.“ Sie hat das Wort schon immer geliebt.
Lacht wieder und zieht sich das Unterhemd aus.
Mein Blick fällt auf ihre Brüste, die sie längst wieder vergessen hat. Ich ziehe ihr das Nachthemd über den Kopf, dirigiere ihre Hände durch die Ärmel. Nicht so einfach, aber dann haben wir es geschafft. Ohne Aufforderung beginnt sie zu knöpfen, der erste Knopf klappt gut, bei dem zweiten dauert es.
„Hach“, sagt sie unwirsch und erwartet Hilfe. Ich stehe still. Wenn ich schlecht drauf bin, in Eile, kriecht die Ungeduld in mir hoch, und ich muss mich zusammenreissen, um sie nicht anzutreiben oder das Knöpfen in einem Bruchteil der Zeit selbst zu übernehmen. Wenn es mir gut geht, ich in Balance bin, freue ich mich daran, wie sie es schafft, trotz ihrer manchmal ungelenken Finger und der vergessenen Technik erfolgreich zu sein, und mein „Geschafft!“ ist voller Freude und nicht geheuchelt.
Katharina strahlt mich an. Sie hat keine Ahnung, dass jetzt die Hose ausgezogen werden muss, doch was immer ich sagen werde, sie wird mir folgen. Manchmal kann sie das in Worten ausdrücken, „Wie gut, dass du da bist!“. Manchmal sind es auch nur ihre Augen und das Vertrauen in ihnen, dass ich es gut mit ihr meine und kein Schaden von mir ausgeht.
Das Gefühl hatte sie auch vor zwei Jahren, als der Besuch anstand bei meiner Lieblingstante. Marga war nur für einen Nachmittag bei ihrer Freundin zu Besuch, und ich war gespannt auf ihre Geschichten, ihre Sicht mir altbekannter Familienmythen. Katharina war in einer Phase, in der sie darauf bestand, ihre Kleidung selbst auszusuchen, und ich verfolgte besorgt die immer weiter schrumpfende Spanne, die mir bestenfalls mit Marga noch bleiben würde.
„Schau mal, der Rock wäre doch schön!“
„Der ist nicht richtig“.
Ich rollte mit den Augen, seufzte, reichte geistesabwesend eine weinrote Hose, die sie sich sorgsam anzog. Sie griff zu den lila Ringelsocken, die ihr mal an mir so gefallen und die ich ihr deshalb überlassen hatte.
Ich atmete tief ein und fragte: „Bist du dir sicher?“, doch sie war schon damit beschäftigt, sie umständlich über ihre Zehen zu ziehen. Zum Schluss kam noch ihr leuchtend grüner Lieblingspulli dran, und ich verscheuchte die Frage, was die anderen über sie und damit mich denken könnten mit dem Gedanken, dass jeder ein Recht auf seinen Geschmack habe. Schliesslich hatte ich das auch bei dem Undercut und den Nieten und Stacheln in der Mode meiner Kinder immer vertreten. So stand sie jetzt, nach eineinhalb Stunden, in denen wir längst erwartet wurden, in ihren ausgesuchten Kleidungsstücken im Gästezimmer. Ich schob sie hinaus auf unsere Terrasse und wollte nur los.
Und dann passierte es: In einem gewaltigen Strahl, wie ein strullendes Pferd, liess sie unter sich, stand für einen Augenblick in einer sich ausweitenden Lache auf meinem Terrakottaboden, bevor sich ein Rinnsal wie der klägliche Rest meines selbstbestimmten Lebens zwischen den Blumentöpfen verkroch. Ein Hosenbein klebte schlaff an ihrem Schenkel, und Katharina kicherte.
In dem Moment packte ich sie bei den Schultern, so dass sie vor Schreck und Schmerz zusammenzuckte und einen Schrei ausstiess. Ich wollte sie durchschütteln, die vergehenden Zellen in ihrem Kopf durcheinander rütteln, bis meine Wut, dieses rasende, kreischende Ungeheuer, mich wie ein Dämon verlassen würde und wir beide besinnungslos zu Boden sinken könnten.
Satzfetzen rasten durch mein Hirn, „verpfuschtes Leben“, „lass mich in Ruhe“, „stirb!“. Stattdessen atmete ich ein paar Mal durch und brachte mit tiefer, gefährlich ruhiger Stimme hervor: „So geht das nicht weiter, Mutter.“
Wir fahren jetzt fort mit unserem Ritual. Aufstehen, um die Hose zu öffnen und über den Po zu führen, dann wieder auf den Stuhl setzen und die Beine ausstrecken, und ich ziehe daran, an dem ersten Hosenbein, dem zweiten, der ersten Socke, der anderen ... Katharina - so nenne ich sie in mir bewusst, denn seit Jahren ist sie wieder das Mädchen ihrer Kindheit und „meine Mutter“ füllt sie schon lange nicht mehr aus – lacht bei jedem Kleidungsstück, freut sich.
Damals, auf der Terrasse, habe ich in meinen persönlichen Abgrund geschaut und endlich begriffen. Ich schaffte es einfach nicht mehr, sie voll und ganz zu versorgen, brauchte Raum und Zeit, ein Leben ohne sie. Die äusseren Veränderungen, die Kurzzeitpflege während meines Urlaubs, später das permanente Zimmer im Heim waren leicht zu organisieren. Viel schlimmer war der Abschied von einem Teil von mir, einem idealen Selbst. Ich war nicht die alles ertragende Tochter, ich wollte das nicht mehr sein. Wenn ich mich nicht verlieren wollte, musste ich loslassen, mussten sich unsere Leben zum zweiten Mal wieder voneinander entfernen.
„Und jetzt?“, fragt sie.
„Am besten gehst du noch aufs Klo.“ Sie ist etwas wackelig auf den Beinen, und ich stütze sie. Als Kind habe ich meine Mutter nie nackt gesehen, doch die Zeit der Scham ist vorbei. Ich stehe am Waschbecken und warte in dem geräumigen Badezimmer, bis sie sich die Windelhose wieder hochstreift. Gut bereit für die Nacht.
„Komm, jetzt musst du deine Zähne noch hier rein tun“, fordere ich sie auf, als sie mit Händewaschen fertig ist, und ich halte ihr die Dose dafür hin.
Nur wenig ist noch übrig von ihrem einstmals starken Geist. Abstrakte Kategorien gehören nicht dazu. Vor Monaten hat sie mich einer anderen Dame als „ihre Mutter“ vorgestellt, jetzt kann sie dieses Wort mit keinem Inhalt füllen. Sie kann und muss sich nicht mehr der Frage stellen, ob ihre vormals harsche Art für Unglück in meinem Leben verantwortlich war, sie lebt jenseits der Schuld, ganz im Jetzt.
Ich begleite sie zum Bett, helfe ihr hinein und streichele sanft über ihre Wange.
„Bis nächste Woche!“ Natürlich hat sie kein Gefühl für diese Zeitspanne, auch dass die Altenpflegerin noch nach ihr sehen wird, ist ausserhalb ihrer Vorstellung.
An der Tür winke ich noch mal, wie es zum Ritual gehört. Doch ihre Augen sind schon zu, und entspannt liegt ihr Kopf auf dem Kissen.
Wie jedes Mal wische ich mir die Träne aus dem Augenwinkel, atme tief durch und betrete wieder mein eigenes Leben.
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