Auf der Pirsch
Von: Elisha
Heute war der grosse Tag. Als hätte die Natur davon Wind bekommen, hatte sich der ganze Wald in dem Gelände herausgeputzt. Die Blätter der Bäume strahlten noch ein letztes Mal in leuchtendem Gelb und Rost und Grün, der Regen hatte die Pilze am Wegesrand spriessen lassen, und Leonard sog genussvoll die würzige Luft ein. Er liebte es, sich im Wald zu bewegen und ging einen Schritt weiter durch das Unterholz.
Den Bogen hielt er entspannt in der linken Hand, den hölzernen Köcher mit den Pfeilen in der Rechten. Vorbei war die Anfangszeit, in der er sich gequält hatte, um den Pfeil überhaupt in Richtung Wurfscheibe zu schiessen, geschweige denn, das innere des Kreises zu treffen.
Was hatte er immer wieder geübt, den Bogen gehoben, den Auszug der Sehne vergrössert, bis der Pfeil immer leichter und mit Kraft und Eleganz durch die Luft geglitten war, genau so, wie er es geplant hatte. Sein Lehrer Hinz, der in den ersten Wochen bei seinen Bemühungen den Kopf geschüttelt hatte, hatte erstaunt zwischen den Zähnen hindurch gepfiffen und ihm gesagt: „Jetzt scheinst du bereit zu sein für die Jagd im Wald.“
Zum ersten Mal hatte er nicht nur mitgehen dürfen, wenn das Grüppchen der Fortgeschrittenen zwischen den Bäumen verschwunden war, sondern Hinz hatte ihn auserkoren, als erster voran zu schreiten und als Kundschafter die Beute zu sichten. Ein Zweig knackte unter seinem Fuss, und in der Ferne meinte Leonard einen dunklen Fleck im Gebüsch zu erkennen. Er warf einen Blick auf die anderen, die ihm stumm in einiger Entfernung folgten, und beschleunigte seinen Schritt.
Er fühlte sich gut, ganz eins mit seinem traditionellen Bogen, der schon seit Tausenden von Jahren den Menschen bei Jagd und Kampf ergänzte. Es war, als wäre er um Jahrhunderte zurückversetzt, in eine Zeit, bei der ein Mann noch ein richtiger Kerl war, wenn er seinem Weib und seinen Sprösslingen mit Schnelligkeit und Wagemut eine gute Mahlzeit bescherte.
Nur dass neuere Erkenntnisse diesem vorgestellten Bild aus seiner Kindheit widersprachen, von jagenden Frauen bei den Inuit bis hin zu gesammelten Früchten, Wurzeln und Kräutern als dem verlässlichen Teil der Nahrung. „Ich lese zu viel“, sagte er leise und warf noch einmal den Blick über die Schulter. Ja, die anderen waren noch hinter ihm.
Er stieg die Böschung hinunter, um sich der dunklen Gestalt auf der anderen Seite zu nähern. Von hier konnte er die Grösse noch gar nicht abschätzen. Sollte es sich um ein Wildschwein handeln, einen Keiler mit gefährlichen Hauern oder eine Bache mit Frischlingen? Leonard erinnerte sich an die Sage von Herakles, der mit eigenen Händen den Eber lebendig zu Fall brachte. Beruhigt spürte er das Gewicht des Bogens in seiner Hand.
Langsam, Schritt für Schritt, näherte er sich dem Ungetüm. Noch immer war es nur etwas Dunkles, undefinierbar im Unterholz versteckt. Er ging etwas zur Seite, um einen besseren Blick und Sicht für den Schuss herzustellen. Vielleicht war das ja eine ganz andere Tierart, ein Wolf, Fuchs oder Bär? Weiter ging er um das Tier herum, bis zu dem Punkt, an dem sich die Büsche teilten und eine kleine Gasse bildeten. Er stellte sich in Position, nahm einen Pfeil aus dem Köcher, zielte …
„Lennard hat das erste Tier gefunden“, hörte er die Stimme von Hinz hinter ihm. „Dann zeig mal, was du kannst!“ Eine Windbö fegte die Zweige auseinander, und jetzt konnte er es deutlich erkennen. Er sah auf ein braunes Reh, das ihm mit eindeutiger Grimasse die Zunge herausstreckte.
„Wirklich?“ Er schüttelte den Kopf und lachte. „Dass wir auf Tiere aus Plastik schiessen, finde ich ja voll in Ordnung. Aber könnten sie nicht ein bisschen respektvoller aussehen?“ Damit hob er den Bogen und schoss.
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