Energieverluste
Von: Karl Feldkamp
Selbst wenn jener unbedeutende Sack Reis in einem abgelegenen chinesischen Dorf umfällt, bewegt er nichts von Bedeutung oder doch so viel, wie der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Wirbelsturm auszulösen vermag.
Nun bin ich inzwischen allenfalls ein ziemlich alter Sack und mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings bewegte ich mich in den letzten Jahren kaum noch. Nach physikalischem Ermessen aber geht Energie bekanntlich nie verloren. Das ist tröstlich, obwohl meine Energie dennoch von Jahr zu Jahr abzunehmen scheint.
Vielleicht irren die Physiker?! Vermutlich waren es die Erkenntnisse junger Wissenschaftler, denen die notwendigen energieraubenden Erfahrungen fehlten. Zu meiner Beruhigung mag es auch sein, dass ich zu subjektiven Irrtümern neige und Schwächen fühle, die längst noch keine sind?
Wie dem auch sei. Bekanntlich liegen neben grossen Höhen zumeist Abgründe.
Während erfahrene Bergsteiger Gipfel nicht hastig, aber zügig erklimmen, würden sie ungebremste Stürze in Richtung Abgrund bei Fallgeschwindigkeit kaum überleben. Alles eine Frage der richtigen Geschwindigkeit.
Meine ist die eines Fussgängers, der glaubt, für sein Alter noch relativ zügig unterwegs zu sein. Daher gilt für einen Senioren wie mich eher langsam, stetig, Energie sparend und gut gesichert, den Abgrund vor Augen, immer etwas weniger hoch hinaufzusteigen, um beim Abstieg sturzfrei und ohne Verschleiss der Kniegelenke ins heimatliche Tal zurückzukehren.
Die von meiner Wohnung nächstgelegene Haltestelle der Strassenbahn liegt auf einer Anhöhe. Kein Berg. Aber doch ein paar Meter über dem Meeresspiegel.
Rheumatischen Schmerz vermeidend, habe ich mir angewöhnt, mich selbst nicht zu viel zu bewegen. Ich bevorzuge, mit bewegungsfreien, aber lebenspraktischen Beispielen zu philosophisch bewegenden Erkenntnissen vorzudringen, um mir nicht nachsagen lassen zu müssen, bereits geistig unbeweglich zu sein.
Allerdings vermeide ich geheuchelte wie ehrliche Mitleidsreaktionen und verleugne alle Einzelheiten aus dem umfangreichen Katalog meiner altersbedingten Behinderungen.
Nur so viel: Manches findet, wie bereits angedeutet, nur noch in meinem inzwischen langsamer arbeitenden, aber noch fantasiebegabten Hirn statt. Mir weniger wohl Gesinnte nennen es Erinnerung, Spinnerei oder gar Traum. Und selbst der läuft manchmal wie ein Film in Zeitlupe hinter meinen zum Mittagsschläfchen verschlossenen Augen.
Den eigendiagnostizierend selbstkritischen Psychologen gebend, nenne ich das Phänomen entschleunigten Realitätsersatz. Hört sich gelassen sowie wissenschaftlich vernünftig an, ganz wie es die Menschheit von einem altersweisen Mitglied unserer alternden Gesellschaft erwartet.
Dabei wäre ich lieber eigenwilliger. Doch das wird mir gern als Alterssturheit ausgelegt. Also bemühe ich mich verzweifelt weiter, den über sich selbst lachenden Senioren mit Einsicht in seine begrenzte Lebenssituation zu spielen, obwohl ich genau diese Grenzen nicht einsehen will.
Wenn ein alter Sack fast umfällt, weil er wieder einmal aufwärts - viel zu spät und deswegen viel zu schnell - zur Strassenbahnhaltestelle unterwegs war, könnte er schon den zarten und zugleich mächtigen Flügelschlag eines Schmetterlings für seine Aufwärtsbewegungen gebrauchen.
Aber nach dem schnellen Aufstieg benötigt er zunächst jene, die in unserer selbstsüchtigen Gesellschaft zu den bedrohten Arten gehören, jene sensiblen jugendlichen Zeitgenossen, denen der bedenkliche Zustand von Mitmenschen übernächster und überübernächster Generationen auffällt. Ein derart aufmerksamer dunkelhaariger Jungfahrgast (selbstverständlich mit Migrationshintergrund, der das Alter noch zu ehren weiss) sprach mich in unerwartet höflichem Tonfall an: „Bitte, wenn Sie sich auf meinen Platz setzen wollen..!“
„Nein, nein, lassen Sie nur…!“ schnaufte ich in meiner Atemnot und versuchte, mich mit einem besonders dankbaren, aber ablehnenden Lächeln frisch und jung zu geben. Dann wurde mir schwindelig. Ich taumelte. Der junge Mann griff mir unter die Arme und schob mich auf jenen Sitzplatz, der kurz zuvor noch der seine gewesen war.
Als ich einige Stationen später aussteigen wollte, half er mir hoch, stützte und begleitete mich zu jener Parkbank, auf der ich bei gutem Wetter gern sass und Jogger beobachtete, die im Park ihre Schweiss treibenden Runden liefen. Ich dankte dem jungen Mann nicht zu überschwänglich. Wollte ich doch den Eindruck vermeiden, bereits derart viel Unterstützung nötig zu haben. Er ging lächelnd zur Haltestelle zurück, um in die nächste Bahn einzusteigen.
Der warme Mainachmittag liess es zu, dass mich Schmetterlinge umkreisten und junge Frauen, ihre Hinterteile in engen Jeans schwenkend, mit dünn-duftigen Blusen bekleidet an mir vorbeiflanierten. In einen Gefühlssturm versetzten mich die bunten Falter nicht, aber ein warmer leichter Frühlingswind war es schon.
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