Vorsätze – wenn nicht jetzt, wann dann?
Von: Hans berger
Ein Jahreswechsel bietet immer eine gute Gelegenheit innezuhalten, eine Standortbestimmung vorzunehmen, das alte Jahr Revue passieren zu lassen und Perspektiven für das neue Jahr zu entwickeln. Ja, wenn die Zeit auf der Schneide steht, werden die Menschen meist bedächtig. Es gibt keinen besseren Moment für gute Vorsätze als den Jahreswechsel. Albert Einstein sah dies allerdings lockerer, denn er empfahl: „Wenn's alte Jahr erfolgreich war, dann freue dich aufs neue. Und war es schlecht, ja dann erst recht!“
Dennoch; der Jahreswechsel lädt geradezu zur Selbstreflexion ein. Das alte Jahr Revue passieren zu lassen und dem Neuen Jahr bewusst zu begegnen, ermöglicht es, sich Dinge bewusst zu machen, die sonst im Unterbewusstsein verloren gegangen wären. Das macht nicht nur glücklich, sondern liefert auch wertvolle Erkenntnisse über sich und sein Leben.
Wer erinnert sich nicht noch an die gleiche Prozedur vor einem Jahr? Wurde das alte Jahr mit viel Lautstärke verabschiedet oder das neue Jahr mit der gleichen Phonezahl begrüsst – oder beides? Für viele Menschen wird es in wenigen Stunden ein „endlich ist es vorbei“ sein, für genauso viele aber auch ein wehmütiger Abschied von einem schönen Jahr. Freud und Leid begleiteten uns alle durch das Jahr. Manchmal auch von beidem zuviel.
So oder so, es ist jedenfalls empfehlenswert, sich diese Zeit des Durchatmens mit guten Gedanken, Gesprächen und Leckereien zu versüssen, denn keine Geiss vermag es wegzuschlecken: Der Vorhang fällt für das alte Jahr, die Bühne ist frei für das nächste Stück, über dessen Genre und Thema nicht lange gerätselt werden sollte, denn es kommt wie es kommen muss. Gleichwohl sollte das alte Jahr nicht gedankenlos abgeschlossen und das neue Jahr nicht gedankenlos hingenommen werden.
Was ist das Besondere an dem Nachdenken über das, was gerade vergeht und das, was sogleich anbricht? Um dieses Erleben im Gesamt zu spüren und in Worte fassen zu können, sollte das Konzept der Zeit nicht ausser Acht gelassen werden. Ein Konzept der Zeit freilich, das über das mechanische Messen von verrinnenden Stunden hinausgeht. Denn das Messen der vergehenden Zeit impliziert ja noch nichts: es lässt keinen Rückschluss auf mich, keinen Rückschluss auf den zu, dem die Zeit geschieht.
Die Zeit als solche wird für den reflektierenden Menschen erst relativ spät interessant. In der Philosophie entstehen wesentliche Disziplinen lange vor einer Geschichtsphilosophie, beispielsweise die Ontologie, die Lehre von den seienden Dingen, reduziert formuliert: Die Lehre von dem, was ist. Das, was ist, können wir uns heute ohne das Konzept der Zeit jedoch nicht mehr vorstellen.
Dass wir im Modus der verrinnenden Zeit unserem Dasein einen Sinn abringen wollen, ist eine Eigenart des Menschen. Denn die Zeit verrinnt ja auch für andere Lebewesen. Nur ist es ihnen nicht in der Weise bewusst, wie es dem Menschen bewusst ist. Der Sinn ist die Triebfeder, die alles zusammenhält. Sie ist daher das, worauf hin alles gerichtet ist und somit Ein- und Ausgang nimmt.
Für Schiller ist dieser Sinn die Freude: In seiner Ode heisst es „Wem der grosse Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein. Wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein.“
Wir neigen bei unserer Sinnsuche dazu zu glauben, dass allen Dingen ein einziges Prinzip zugrunde läge. Goethes Faust meint diesbezüglich: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält.“ Ob das Suchen nach einem Prinzip immer so zielführend ist? Normalerweise nicht. Aber für das spezielle Nachdenken am Jahreswechsel gibt es in der Tat dennoch einen Grund.
Der Jahreswechsel ist ein rechter Augenblick, ein Moment, in dem das Vergangene (meist verstanden die letzten 365 Tage) und das Zukünftige (meist verstanden als die kommenden 365 Tage) in einem geschaut und gespürt werden kann. Wir erleben in dem Moment, während des Vorübergangs des Jahreswechsels, wie Vergangenes und Zukünftiges sich uns in einem Moment präsentiert. Die verrinnende Zeit als Masseinheit des Lebens, das wir leben können und dürfen, spricht uns direkt an: „Was machst Du da?“
Deswegen ist der Jahreswechsel der Moment für Vorsätze. Die Behauptung, man könne an jedem anderen beliebigen Tage im Jahr solche fassen, ist dahingehend unvollständig, als dass es zu einem andern Zeitpunkt nicht den selben Sinn macht.
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