Familienzusammenführung
Von: Elisha
Nur kurz hatte Leander gezögert, als er den Brief erhalten hatte. „Mein lieber Sohn, nun bist du schon lange erwachsen …“, waren die ersten Zeilen, die er überflogen hatte. „Ich habe in den Medien verfolgt, wie du dich für die gemeinsame Elternschaft einsetzt. Ich konnte dir nicht wie beabsichtigt ein Vater sein. Wie gern würde ich dich wieder sehen. Bist du zu einem Treffen bereit?“
Nie hätte er so einen Brief erwartet, und Tränen waren aus seinen Augen geströmt. Wie sehr hatte er sich nach einer Aussöhnung gesehnt! Sein bester Freund Thomas hatte immer wieder von seinen beiden Vätern geschwärmt.
Sein leiblicher Vater hatte ihm Segeln und Zelten beigebracht, war immer für praktische Probleme zuständig geblieben, die man mit Werkzeug lösen konnte. Sein Stiefvater hatte ihm die liebevolle Beziehung mit seiner Mutter vorgelebt, ihn in Literatur eingeführt und hatte ihm die Bedeutung von historischen Begebenheiten vermittelt. „Die beiden besten 'Mutterficker', die ich kenne“, hatte Thomas mal lachend gesagt, und Leander hatte den altbekannten Stich in der Brust gespürt.
Leanders Stiefvater war auch in Ordnung gewesen. Ein wenig unscheinbar, aber zuverlässig hatte er die kleine Familie gestützt. Und natürlich hatte sich Leander bei seiner eigenen Hochzeit auch ein immerwährendes „Glücklich bis an ihr Lebensende“ gewünscht, so dass ihn die Trennung tief getroffen hatte.
„Mach dir keine Sorgen um Olaf. Du wirst immer sein Vater bleiben“, hatte Lisa ihm am Scheidungstag zugesagt.“ Und sie hatte es ernst gemeint; jede wichtige Entscheidung, jede Veränderung sprach sie mit ihm ab. Sie beide hatten sich mit anderen Eltern ausgetauscht und einen Verein gegründet, um auch andere zu ermutigen, gut miteinander umzugehen.
„Ich verstehe nicht, was manche Menschen einander antun können“, hatte Lisa bei einem ihrer Treffen traurig gesagt. „Das sind doch alles Menschen, die sich mal geliebt haben. Und wenn das nicht reicht: es geht doch um das Wohl der Kinder.“
Erschütternden Schicksalen waren sie begegnet. Da gab es immer wieder Elternteile, meistens Väter, die seit Jahren um Sorge- oder Besuchsrecht für ihre Kinder kämpften. Die Unruhe der Kinder in der Trennungsphase nutzten manche, um vereinbarte Treffen abzusagen oder einfach nicht zu erscheinen. Kinder wurden als krank deklariert oder schienen sich zu sträuben, den anderen Elternteil sehen zu wollen. Das führte zu immer mehr Entfremdung, bis die Betroffenen in Depression versanken und oft einfach kraftlos aufgaben. Manche entwickelten durch die Arbeit im Verein allmählich neue Stärke, und zaghafte Versuche der Annäherung, auch bei erwachsenen Kindern, wurden manchmal gewagt.
Also hatte Leander sich auf ein Treffen eingelassen, den Biergarten hinter dem Café vorgeschlagen. Daneben war ein Teil in ihm misstrauisch geblieben, hatte ihn zu Wachsamkeit gemahnt. Und so ging er, äusserlich cool, innerlich aufgewühlt, an der Hecke entlang zu dem vereinbarten Tisch. Sein Vater sass schon da und lächelte verlegen. Er nahm seinen Strohhut vom Kopf und fächelte sich etwas Frischluft zu, und Leander bemerkte die fehlenden Haare und tiefen Falten in dem wohlbekannten Gesicht.
Die ersten Worte waren Höflichkeiten, die von Fremden ausgetauscht wurden, dazu die Bestellung für die Bedienung. Quälend lang sassen sie dann da, schweigsam, warteten auf ihre Getränke. Schliesslich fasste Leander sich ein Herz:
„Deinen Brief hatte ich nicht erwartet.“
Sein Vater schaute auf, suchte nach Worten:
„Es war der Artikel in der Zeitung, der mich drauf gebracht hat.“ Er hob sein Bierglas, trank einen Schluck und stellte es wieder ab. „Du bist geschieden, jetzt weisst du auch, wie es ist.“
Noch einen Schluck, dann: „Und du bist auch Vater.“
Leander nahm auch einen Zug , um Zeit zu gewinnen, die Worte auf sich wirken zu lassen.
Sein Gegenüber murmelte weiter: „Du weisst, wie die Frauen sind, welche Spiele sie spielen.“ Verächtlich spuckte er in den Kies unter ihnen. „Bestimmt hat sie mich nur schlecht gemacht, deine Liebe zu mir im Keim zerstört.“
Leander fragte ungläubig: „Du glaubst, meine Mutter wäre schuld?“
„Sie hat mir alles genommen, was mir zustand!“ Schaumtröpfchen spritzten aus seinem Mund.
Leander schwieg. Die Bilder ihrer letzten Zusammenkunft kamen ihm in den Sinn: sein Vater am Nachmittag im Schlafzimmer, der qualvolle Schrei seiner Mutter, als sie den Raum betrat. Er als kleines Kind folgte ihr, sah den leblosen Körper und die rotdurchweichte Bettwäsche, das fallen gelassene Gewehr … Niemals hätte er gedacht, dass das alles nur inszeniert sein könnte, leuchtende Tomatensauce, um seine Mutter zu bestrafen, damit sie seine Kränkung richtig verstünde. Es hatte sie beide aus dem Leben geschnellt, hatte einen baldigen Umzug nötig gemacht und viele Jahre Therapie, um den Schrecken hinter sich zu lassen.
Leander hatte auf eine Entschuldigung gehofft, ein Anerkennen, was sein Vater damals angerichtet hatte. Stattdessen wollte der sich nur mit ihm verbünden, wollte immer noch Recht behalten in dem für ihn lebenslangen Kampf. Wieder traten Leander Tränen in die Augen.
„Ach, was bist du für eine Memme!“, sagte der Mann ihm gegenüber unwirsch. „Alles ihre Schuld! Sie hat dich verzärtelt.“
Leander zwang sich zu einem Lächeln. „Danke für die Klärung, ich möchte keinen Kontakt mehr.“ Er stand auf und liess den Mann sitzen und zetern. „Wieder etwas endlich abgeschlossen.“
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