Heisse Hundert
Von: Elisha
Es war ein heisser Nachmittag, aber hier, oberhalb des Zürichsees, kühlte eine leichte Brise die beiden Frauen, die noch Blümchen in Gläser steckten und auf die Tische hinter dem Gasthaus stellten. Der Saal für das Buffet war wunderbar gedeckt, da war keine zusätzliche Dekoration mehr nötig. Runde Tische, mit schwerem, weissem Tischtuch, und auf jedem Platz Bestecke und Teller für die verschiedenen geplanten Gänge.
Es war fast wie in dem Film „Pretty Woman“, in dem die Hauptperson sich erklären liess, wie denn im feinen Restaurant zu dinieren sei: Bestecke von aussen nach innen zu benutzen. Auch jetzt lagen die kleinen Gabeln und Messer für die Vorspeisen aussen und innen das grössere Besteck für den Hauptgang. Daneben gab es einen Zusatzteller mit dem Brotmesser, und rechts warteten Wasserglas und Kelche für Weiss- und Rotwein auf ihre Befüllung.
Das wäre nicht nötig gewesen, sagte sich Annmarie zum wiederholten Male und schüttelte den Kopf. Es war Magdas Idee gewesen, gemeinsam den Geburtstag zu feiern, und auch sie hatte den Landgasthof ausgesucht.
„Sagen wir mal so“, hatte sie etwas verlegen zugegeben, „wir waren etwas spät dran. Da gab es nicht mehr so viele freie Stätten.“
„Vielleicht hätten wir es lieber lassen sollen“, hatte Annmarie erwidert. „Ob das ein Omen ist …?“
„Eher dafür, sich früher zu entscheiden.“ Magda hatte den bedrückten Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkt und noch einmal bekräftigt: „Das haben wir uns verdient. Schliesslich werden wir heisse Hundert!“
„Zusammen!“
„Natürlich. Und auch, wenn du meine fünfundfünfzig noch nicht erreicht hast, wirst du es geniessen, das verspreche ich dir. Und zwei so runde Geburtstage mit der Fünf am Ende sollten wir doch nicht unkommentiert verstreichen lassen.“
Annmarie hatte an ihren schlicht geplanten Geburtstag gedacht, zu dem sie eigentlich nur ihre Schwester mit Familie hatte einladen wollen. Sie war vor den grossen Ausgaben zurückgeschreckt, aber Magda hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen: „Wofür willst du denn sparen? Nie gönnst du dir was Schönes!“ Und schliesslich hatte sie sich bereit erklärt zu der grossen Feier.
Die Sonne schien noch, der Himmel erstrahlte wolkenlos und liess das Wasser des Sees hellblau funkeln. Segelboote nutzten das schöne Wetter und glitten über die Wasserfläche. Über das Gleis am Ufer ratterte die Bahn, aus dieser Perspektive eher malerisch als störend. Und hier oben war es ebenso idyllisch. Die Bäume über den Tischen spendeten genügend Schatten, so dass Sonnenschirme nicht nötig waren.
Langsam, in kleinen Grüppchen, trudelten die Gäste ein, begrüssten die Gastgeberinnen und begannen leise Gespräche miteinander. Eine junge Frau ging von einem zum anderen und verteilte von einem runden Tablett Sekt und Mineralwasser an die Ankommenden.
Auch Annmarie nahm sich einen Apéro und nippte daran. Sie betrachtete die Gäste und überlegte, zu wem sie sich dazustellen sollte. Da waren ihre gemeinsamen Kollegen und da die engen Freunde, dort die Familie ihrer Schwester und Magdas Vater mit seiner langjährigen Partnerin. Maria aus der Sprachschule war im angeregten Gespräch mit Silvie und Berthold aus dem Tanzkurs, und auch die neuen Bekannten aus dem Töpferseminar waren gekommen.
„Na, gefällt es dir?“, fragte Magda und stiess klirrend ihr Glas an das von Annmarie. „So viele Leute, und die wollen alle mit uns feiern.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht.
„Fünfundvierzig! Ich war mir nicht sicher, ob ich das schaffe.“ Annmarie schien es erst jetzt, im Angesicht der Gäste, richtig zu begreifen. Schliesslich war es fünf Jahre her, dass ihr Herz sich entzündet hatte und sie dem Tod von der Schippe springen musste. Damals hatte sie weder normal sitzen können, noch stehen oder irgendwelche Strecken gehen, und die Ärzte hatten immer wieder von Herzschrittmacher und Transplantation gesprochen. Und nach fünf Jahren, das sagten die Studien, war die Hälfte der Patienten tot.
„Ich lebe noch, und gar nicht so schlecht!“ Jetzt klirrte Annmarie mit ihrem Glas.
„Bei mir sind es jetzt zehn Jahre“, nahm Magda den Faden auf, „Krebs ade, und bisher kein Rezidiv!“ Sie lachte fröhlich. „Da können wir doch zu neuen Zielen übergehen. Vielleicht die heisse Hundert für jede von uns?“
„Da bin ich mir nicht so sicher, ob ich das will.“ Jetzt lachte auch Annmarie. „Aber die Feier war wirklich eine gute Idee, das wird eine kraftvolle Erinnerung für uns beide.“ Damit tranken sie noch einen Schluck aus ihren Gläsern, bevor sie zu ihren Gästen gingen. Die Musik setzte ein mit dem Lied: „Viel Glück und viel Segen“, und alle Gäste sangen mit.
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