Leben in der Kugel
Von: Elisha
Wie eine grosse, gläserne Kugel liegt das Gebäude vor uns. Dr. Herbst erwartet uns vor dem Eingang und begrüsst uns mit einem Lächeln. Ich bin gelernte Krankenschwester und werde heute meine neue Stelle antreten. Helga begleitet mich, um sicher zu stellen, dass ich in guten Händen bin. Aber ich glaube, hier braucht sie sich keine Sorgen zu machen.
Leben in der Kugel (Foto: La-Liana / pixelio.de)
Trotzdem, mich beruhigt es, sie dabei zu haben. Als wir auf der Fahrt hierher nach dem Weg gefragt haben, meinte der junge Mann:
„Ach, zum Dorf der Irren wollen Sie!“ Noch bevor ich etwas sagen konnte, hat sie ihm entgegnet:
„Auch Demente haben einen Anspruch auf ein Leben in Würde.“ Sie ist grossartig, und ich bin froh, nicht allein zu sein.
Gemeinsam mit Dr. Herbst gehen wir durch die grosse, gläserne Tür und betreten eine andere Welt. Vor uns stehen Häuschen und Bäumchen, es gibt einen Spazierweg, und all das wirkt wie die Landschaft in der Schneekugel, die ich mitgebracht habe. Ich kann kaum glauben, dass wir uns im Inneren befinden und sehe zur Kuppel hinauf.
„Schneit es hier auch?“
„Nein, das Gebäude kann man ja nicht schütteln.“ Dr. Herbst scheint meine Gedanken zu erraten, und wir lachen beide.
Dies ist so ganz anders, als ich es sonst erlebt habe. Die Menschen gehen auf dem breiten Weg spazieren, der sich wie eine Acht über den Boden schlängelt. Sie rasten auf den zahlreichen Bänken, besuchen das Eiscafé, den Coiffeur oder den Laden, und ich sehe gar keine weissen Kittel.
„Wo sind denn die Schwestern?“
„Mitten unter uns.“ Dr. Herbst lacht. „Wir haben einen guten Personalschlüssel“, erklärt er Helga, „auf 190 Patienten kommen 140 Pfleger und Ärzte, davon träumen andere Stationen nur.“
„Das liegt an dem Modellcharakter hier, nicht wahr?“, entgegnet sie.
„Ja, und wir bangen immer wieder darum, dass uns die Mittel bleiben.“ Zu mir gewandt sagt er: „Aber keine Sorge, Schwester Gerda, Ihr Platz ist Ihnen sicher.“ Wieder lächelt er, ein angenehmes Lachen, mit blitzenden Zähnen und ein wenig wie ein Schalk. „Sollen wir eine Runde gehen?“
Wir spazieren den Weg entlang, sehen zwei Frauen, die nebeneinander auf der Bank sitzen und reden.
„Karl ist ein guter Junge“, schwärmt die Frau mit dem braunen Hut.
„Er hat den Teller genommen. Einfach genommen“, erzählt die Frau mit dem gelben Kleid neben ihr. „Und abgewaschen. Einfach so.“
„Er kommt mich bestimmt besuchen“, setzt die erste Frau wieder ein.
„Gespült. Und abgetrocknet“, fährt die andere Frau monoton fort.
„Die sprechen ja aneinander vorbei“, wundert sich Helga.
„Es ist gar nicht nötig, dass sich ein Gespräch entwickelt“, erklärt Dr. Herbst Helga die Situation. „Bei Small Talk ist ja auch nicht der Inhalt wichtig. Dieses Reden schafft Vertrautheit und ist gut gegen die Einsamkeit.“ Ich nicke. Ich kenne das ja.
Wir kommen zur nächsten Bank, und Dr. Herbst schlägt eine Pause vor.
Dies ist ja nicht meine erste Stelle und sicher nicht die schlechteste. Die netten Menschen, die Möglichkeit, sich zu bewegen ... Ich blinzele in die Sonne, die durch die grossen Fenster scheint, sehe hindurch auf die Wiesen davor, mit den Schafen unter den Apfelbäumen. Obwohl ich schon den ganzen Morgen über aufgeregt bin, weil ich immer etwas Angst vor Veränderungen habe: hier fühle ich mich wohl. Alles ist so licht und weit ... Wir gehen weiter und folgen der Biegung des Weges.
Auf der nächsten Bank sitzt ein kahlköpfiger Mann, der einer Frau mit weissen Haaren und knittriger Haut die Hand streichelt.
„Ein altes Paar?“, fragt Helga? Der Arzt schüttelt den Kopf. „Sie haben sich hier kennen gelernt, er nennt sie manchmal beim Namen seiner verstorbenen Frau, und wofür sie ihn hält ... Vielleicht für einen Verehrer aus alten Tagen?“
„Und das lassen Sie zu?“, fragt Helga bestürzt mit einem Seitenblick auf mich.
„Warum nicht? Sie haben sogar ein eigenes Zimmer. Solange sie sich wohlfühlen ...“ Helga zuckt mit den Schultern.
„Frau Behrendt, hier hat jeder Patient seine eigene Realität, und wir versuchen, sie zu verstehen.“
„Und mitzuspielen?“
„Ja, es ist wie ein Schauspiel, und ich muss ständig herausfinden, welche Rolle ich gerade spiele. Mal bin ich der Sohn einer Patientin, mal der längst verstorbene Kollege, dann wieder Arzt ...“
Dr. Herbst macht uns auf die farbigen Markierungen am Wegesrand aufmerksam.
„Jedes Haus hat seine eigene Farbe, und die Zeichen führen dorthin. Schwester Gerda, zu Ihrem Haus gehört das dunkelrote Dreieck.“ Zu Helga gewandt erklärt er weiter: „Da wohnen zwölf Patienten, und betreut werden sie von einem festen Team, die ganze Zeit hindurch. So haben die Patienten immer Bezugspersonen, die sie kennen und auch, wenn es bergab geht, noch aus den guten Zeiten wissen, wie sie ihnen helfen oder sie anregen können. “
Ich sehe einer getigerten Katze zu, die neben einer alten Dame hertrippelt, mit ihr Schritt hält. Dr. Herbst folgt meinem Blick und nickt:
„Ja, die Herrschaften können ihre Lieblinge mitbringen. Sie sollen sich doch nicht von ihren letzten Lebenspartnern trennen müssen.“
„Bringt das keinen Ärger? Kämpfe der Haustiere, Allergien?“, fragt Helga und zieht die Augenbrauen hoch.
„Wir berücksichtigen das bei der Zusammenstellung in den Häusern.“
Wir folgen den Dreiecken und nähern uns dem roten Pavillon mit den weissen Fenstern. Ein Druck legt sich auf meine Brust, und plötzlich bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Will ich das wirklich? Ist das meine Zukunft? Düstere Bilder steigen in mir auf, graue Schatten aus der Erinnerung, die mich mahnen wollen, ohne greifbar zu sein. Ich bleibe stehen und versuche, mich zu sammeln, und da tauchen sie plötzlich auf, ganz klar und deutlich:
Der alte freundliche Mann, der von seiner Frau und seiner Tochter auf unsere Station gebracht wurde. Ich war noch Schwesternschülerin und nachts allein, als er durch die Gänge irrte. „Ich will nach Haus“, murmelte er ständig, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er weigerte sich, wieder ins Bett zu gehen, und als eine Schwester von der anderen Station zur Hilfe kam, wehrte er sie ab und stiess sie in die Zimmerecke. Er wurde an den Handgelenken fixiert, schrie und weinte und wimmerte ... Als er zwei Wochen später starb, war er zu einem kleinen Männchen geschrumpft, und seine Unterarme ganz blau.
„W-was passiert hier mit Menschen, die nachts nicht schlafen können?“, stammle ich.
„Die können spazieren gehen, wie tagsüber auch“, beruhigt mich Dr. Herbst, und Helga legt ihren Arm um meine Schulter. Sie kennt die Geschichte mit dem Mann.
Noch bevor wir den roten Pavillon betreten, werden wir von einem angenehmen Aroma eingehüllt. Sofort entstehen in mir Bilder von duftendem Kaffee und warmen Brot, dazu ziehen mir Gerüche in die Nase von dem Essen, das gerade zubereitet wird. Wie ein Willkommensgruss!
„Hier wird ja noch richtig gekocht“, wundere ich mich und denke an das Kantinenessen der letzten Stellen.
„Ja, wir kochen mit den Patienten. Kartoffeln schälen, Möhren raspeln, Salat putzen – das sind alles Tätigkeiten, die die meisten noch beherrschen und gern tun.“ Dr. Herbst deutet auf das Küchenfenster, und wir sehen im Haus eine Gruppe von Frauen um einen grossen Tisch versammelt. Während einige noch Gemüse schnippeln, spült eine Frau in einer Plastikschüssel vor sich ein Brettchen, eine andere trocknet Messer und Löffel ab.
„Natürlich haben wir auch eine Spülmaschine“, erklärt Dr. Herbst wieder mit seinem Schalk-Lächeln, „aber manchmal haben einige Lust, Dinge mit der Hand zu spülen.“
Ich sehe, wie eine dritte Frau die gerade getrockneten Besteckteile im Bogen zurück zu der spülenden Frau bringt, die sie behutsam wieder in die Schüssel legt. Alle sind mit grossem Ernst bei der Sache.
Dann schreiten wir durch die weisse Tür und gehen durch den hellen Flur hinüber in den Gemeinschaftsraum. Ein schwerer Ledersessel steht in der einen Ecke, Sofas und Eichentische im anderen Teil des Zimmers. Auf der Anrichte stehen wunderschöne Figürchen: zierliche Elfen aus Porzellan, ein rundlicher Vogel aus Glas neben einem majestätischen Holzreiher.
Während ich noch schaue, stupst Helga mich an und lächelt. Hierher hat jeder etwas mitgebracht, und ich werde meine Schneekugel dazustellen, damit ich sie jeden Tag sehen kann. Jemand hat meine Reisetasche aus dem Auto geholt, und ich nehme die schwere Kugel aus Glas vorsichtig heraus und schüttele sie leicht, damit Schnee auf die Bäumchen und Häuschen fällt. Ich suche einen passenden Platz und stelle sie neben ein seltsames Ding in einem Messingrahmen, das man auf den ersten Blick für einen Spiegel halten könnte. Aber als ich hinein sehe, blickt mir ein fremdes Gesicht mit Falten und schütterem weissen Schopf entgegen.
Helga umarmt mich, und ich spüre eine warme Träne, die von ihrer Wange auf meine Stirn tropft.
„Hier wird es dir gut gefallen“, sagt sie und wischt mit dem Finger über meinen Haaransatz. „Das meinst du doch auch, Tante Gerda, nicht wahr?“
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