Amanda, die Seejungfrau
Von: Elisha
Um mich ist klares Wasser, ich stütze mich nach hinten ab, und nur mein Knie ragt über die Oberfläche. Eine riesige Ente setzt sich darauf, balanciert, und zwischen ihren kalten, nassen Füssen lugt ein Ei hervor.
Amanda, die Seejungfrau (Foto: Huber / pixelio.de)
„Warum auf mir?“, frage ich. „Ob das gut geht?“ Doch der Vogel stiert ins Leere, ganz versonnen, noch weitere Eier hervorzubringen, und schon kullern alle nacheinander an meinem Schenkel entlang ins Wasser, wo sie auf einem spitzen Stein zerbrechen.
Ein Rucken reisst mich aus meinem Traum, und ich versuche, mich zu orientieren. Ich spüre veränderte Geschwindigkeit, es riecht fremd, noch eine Erschütterung. Wo zum Teufel ...? Ach ja, die Fähre. Bilder stürmen in mein Bewusstsein, Eindrücke, Erinnerungen. Ich bin auf dem Weg in den Urlaub, zu Anna nach Finnland. Die Kabine habe ich schon vor mehr als einer Stunde verlassen, weil ich mit einer Kreissäge und einem stotternden Lastwagen als Geräuschkulisse zusammengesteckt worden bin. Soviel zur Dreierkabine. Anscheinend bin ich aber auf der Bank wieder eingenickt.
Es war eine spontane Entscheidung. Meine Pläne hatten sich zerschlagen: Erst die Trennung von Daniel, dann Brände in Spanien und Portugal, die meine ohnehin ängstliche Freundin Azizah zögern liessen, und als auch noch eine Insel in Griechenland in Flammen aufging, war sie nicht mehr zu einem gemeinsamen Auslandsurlaub zu bewegen. Ich war frustriert, hatte das ganze Semester lang gepaukt und mir selbst nach meiner zweiten Hausarbeit eine Belohnung versprochen. „Komm doch einfach mit zu uns, Mandy“, lud Anna mich ein. „Ich hab’ mit Freunden ein Mökki - eine Hütte am See.“
Ein Blick auf die Uhr, bald sieben. Ich suche meine Sachen zusammen, stopfe mir den angematschten Rest eines Schokoriegels in den Mund, verstaue alles andere in meinem Rucksack und ziehe die Jacke über. Die letzten Minuten vor der Ankunft möchte ich auf Deck verbringen, jetzt, nachdem ich die lange Fahrt ohne grössere Übelkeit überstanden habe.
Daniel hatte mir eine Horrorgeschichte erzählt von stundenlanger Seekrankheit auf dem Weg nach Irland, aber die Ostsee war ruhig und spiegelglatt, und meine Befürchtungen zum Glück grundlos. Nach der Anreise nach Travemünde, besonders der hektischen Stadtrundfahrt in Lübeck, war ich froh gewesen über die Nacht auf dem Schiff: ausruhen zu können, die Flut von Eindrücken sacken zu lassen, wie ein Indianer, der nach dem Reiten rastet, damit seine Seele ihn wieder einholen kann.
„Finnland? Da war ich noch nie“, sagte ich skeptisch. „Tut mir leid, Anna, ich schmeisse alles nördlich von Deutschland in einen Topf und nenn es Skandinavien.“ Anna lachte. Sie stand in der Wohnheim-Küche und brühte sich einen grünen Tee.
„Och komm, Mandy, kennst du gar nichts?“
Ich ging meine Einfälle durch: „Ikea – Schweden, Fräulein Smilla – Dänemark, Sophies Welt – Norwegen?“ Irgendwas musste mir doch ... „Ach, PISA, ja klar, ihr seid die Besten!“ Ich strahlte. Wenigstens das. „Und Kimi Raikkönen!“ Hatte Daniels Vorliebe für Formel-Eins doch noch etwas Gutes! Und dann sprudelten die Einfälle: die Band Lordi, die mal Sieger beim Song Contest waren, Him mit dem süssen Ville Valo, die Kaurismäki-Brüder ...
„Na also!“ Anna lachte freundlich. „Komm doch nach, wenn du die Hausarbeit abgegeben hast, und ich hole dich in Helsinki ab.“
Aus den Lautsprechern tönen Ansagen in verschiedenen Sprachen, während ich die Treppe zum Deck hinaufsteige. Andere haben dieselbe Idee, und es wimmelt vor Menschen. Oben angekommen, sehe ich Helsinki in der Ferne liegen, wundere mich, wie geschickt das Schiff zwischen den kleinen Felseninseln hindurchmanövrieren kann. Wir nähern uns, und ich erkenne einzelne Gebäude. Plötzlich reisst der Himmel auf, Sonnenschein fällt auf die Stadt vor uns, und der Dom erstrahlt in hellem Weiss. Mein Herz pocht aufgeregt, ich atme tief und nehme den Anblick intensiv in mich auf. Ein Gefühl der Heimat, der Rückkehr steigt in mir auf, als wäre ich schon mal hier gewesen. In einem Traum vielleicht?
Als Anna auf unserer Etage einzog, habe ich zuerst gar nicht verstanden, dass das hübsche Mädchen mit dem dunkelblonden Haar und dem fast fehlerfreien Deutsch aus Finnland kam; sie entsprach so gar nicht meinem Bild einer Finnin. Zunächst war sie sehr schüchtern; dann wechselten wir ein paar Worte, und mir gefiel ihre fröhliche, zuversichtliche Art. Ganz anders als Daniel, der misstrauisch durch die Welt ging und wie magisch Krankheiten und Unfälle, Irrtümer und scheinbare Benachteiligungen anzog, die ihn dann noch missmutiger nörgeln liessen. Eigentlich war das auch der Grund, warum ich die Beziehung beendet hatte.
Einmal erzählte sie mir von ihrer Mutter aus der Schweiz, und ich lud sie zu einem Trip nach Basel ein. Mit grossen Augen liess sie sich alles zeigen, bewunderte das Münster ebenso wie die jungen Leute auf dem Platz davor. „Wir haben auch einen Dom in Helsinki“, sagte sie. „Aber er ist ganz anders. Du musst ihn mal sehen.“
Anna winkt mir aus der Menge der Wartenden mit einem roten Halstuch zu, ich schwenke meine Schirmmütze. Ungeduldig zwänge ich mich an den anderen vorbei und falle ihr um den Hals. Endlich jemand, den ich kenne. „Hei, Mandy“, lacht sie, drückt mich und sagt dann: „Komm, wir trinken einen Kaffee. Du hattest noch kein Frühstück, oder?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, nimmt sie meine Hand und zieht mich durch die Menge über den Markt. Ich lasse es zu, lasse mich führen, und wir sausen an Ständen und Waren vorbei, und ich höre unbekannte Sprachfetzen: vage erkennbares Schwedisch, etwas meinem Schul-Russisch Ähnliches, und eine fremde, nie gehörte Sprache.
„Komm, iss das.“ Anna strahlt und stopft mir etwas in den Mund, das wie Milchbrötchen mit Kardamom schmeckt.
Daniel war beunruhigt. Trotz der Trennung kam er jeden Tag noch auf unsere Etage, war weiterhin Teil meines Lebens.
„Du willst wirklich in die Kälte?“, fragte er ungläubig.
„Ist nicht kalt. So wie hier, manchmal sogar wärmer.“
„Griechenland, Spanien, Portugal – du bist der Typ für den Süden!“, fuhr er fort.
War ich das?
„Und wie willst du dahin kommen? Allein bis zur Ostsee ist es doch schon ’ne Himmelfahrt! So ganz allein!“
„Das habe ich mir schon aus dem Netz gezogen, keine Sorge!“ Ich lächelte ihn betont zuversichtlich an, verschwieg meine Ängste.
Wir setzen uns auf den Rand eines Brunnens, und meine Hand gleitet über das glatte, rote Gestein. Ich bin angekommen, denke ich, und eine Mischung aus Erleichterung und Vorfreude erfasst mich. Spielerisch tauche ich meine Hand in das Wasser, während Anna auf die Statue in der Mitte zeigt und doziert: „Das ist eine Namensschwester von dir. Havis Amanda, aber du kannst sie Manta nennen. Das machen die meisten.“
„Hei Amanda!“, begrüsse ich die Figur, die nackt auf wasserspeienden Fischen steht. „Hattest du nichts anzuziehen?“
„Sie kommt doch aus dem Wasser! Eine Meerjungfrau, die das Land betritt.“
„Ach, wie in dem Märchen? Sie verliebt sich unglücklich und verwandelt sich schliesslich in Meeresschaum?“
„Nein, sie wird zu einer Stadt – Helsinki.“ Wieder Annas Lachen, an das ich mich schon gewöhnt habe. Pah, Finnen sind verschlossen! Wer das wohl wieder gesagt hat?
„Genug Werbung“, sagt sie entschlossen und holt ihr Handy aus der Tasche. „Setz dich auf einen Seelöwen, und wir schicken Azizah eine Nachricht, dass es dir gut geht.“
Mir ist das etwas peinlich, aber danach steigt sie auf eins der Tiere, und ohne darauf zu achten, dass ihr Jeanskleid weit über die Knie hoch rutscht, legt sie ihm den Arm um den Hals und winkt mit der anderen, wie ein kleines Kind auf einem Schaukelpferd. Ein tolles Foto!
„Ich hatte wieder diesen Traum.“ Aus alter Gewohnheit erzählte ich Daniel davon. „Wasser überall, ich tauche, ohne Luft holen zu müssen. Wie zum Abschied betrachte ich jeden Kiesel auf dem Grund, jede Wasserpflanze. Ich lasse alle Vertrauten hinter mir, auch meinen verehrten Vater, dessen Tränen im Wasser kleine Bläschen bilden und als Gischt zur Oberfläche schweben. Übermächtige Angst, an Land nicht atmen zu können! Vorsichtig setze ich einen Fuss auf das Ufer, sehe mich noch einmal um ...“
Daniel scharrte ungeduldig mit dem Schuh über den Fussboden. Ohne den Blick zu heben, murmelte er: „Träume sind Schäume.“
Der Tag vergeht in einer Bilderflut. Mein Gepäck kann ich bei einer Freundin von Anna parken, und dann geht es kreuz und quer durch die Stadt.
„Du sollst ja etwas sehen von Helsinki“, hat sie beschlossen. Ich staune über die Strassenbahn, fotografiere ein weisses Gebäude nach dem anderen, mit Säulen, mit einem schrägen Dach, mit hoher Fassade ... Annas Erklärungen rauschen mir durch die Ohren und wieder hinaus, bis wir endlich den Dom erreichen. Schon als wir die breite Treppe hinaufsteigen, spüre ich mein Herz vor Aufregung schlagen. Die von der Sonne beschienenen weissen Mauern, die Säulen, die blauen Kuppeln, all das weckt ein Gefühl in mir von tief sitzenden Erinnerungen. War ich wirklich noch nie hier?
Innen überwältigt mich die helle Stille. Während ich auf den Altar zuschreite, an der Kanzel vorbei unter dem goldenen Kronleuchter hindurch, fühle ich mich immer leichter, und ganz ruhig setze ich mich auf eine der Bänke. Mit den weissen Engeln rechts und links vom Altar bilde ich ein Dreieck, und es ist, als hielten wir heimlich Zwiesprache, bevor ich meine Besichtigungstour wieder aufnehme.
„Fahr nicht dorthin“, versuchte es Daniel noch ein letztes Mal. „Wir könnten doch auch als Freunde zusammen verreisen, irgendwo in den Süden ...“
„Vergiss es, Daniel“, meinte ich traurig, „ich habe doch schon gebucht.“ Vergiss mich, Daniel.
Nachmittags treffen wir die Jungs, die mit uns an den See fahren wollen. Mika, Annas Bruder, kommt mit seinen strohblonden Haaren und wasserblauen Augen meiner Vorstellung eines echten Finnen schon nahe, und in klarem Deutsch heisst er mich willkommen. Für seinen Freund Matti, der nur Finnisch spricht, habe ich einen Satz eingeübt. „Mitä kuuluu?“, frage ich nach seinem Befinden, was er nach kurzem Erstaunen mit einem Schwall unbekannter Laute beantwortet. Ich verstehe kein Wort, und alle lachen.
Mika sitzt neben mir auf der Rückbank des Wagens, und ich starre beiläufig durch das Fenster auf die vorbeifliegenden Kiefern und Birken am Strassenrand. Ich bemühe mich, ein Gähnen zu unterdrücken und erfahre, dass noch drei andere mit uns wohnen und schon am Mökki sind. Dann versinkt alles in einem Gewebe aus Klängen und Wörtern. „Hab keine Angst, Meermädchen.“ Mikas Stimme, direkt neben mir. Aber wir sitzen nicht mehr im Auto, sondern stehen am Ufer des Sees. Ein Vogel bringt mir ein weisses Gewand, genau das, worauf ich gewartet habe. Ich fühle mich wie neugeboren ...
Eine scharfe Kurve lässt mich aufschrecken, und schon sind wir in einen Waldweg eingebogen und fast am Ziel. Da steht es, das kleine Haus aus Holz, das für zwei Wochen mein Zuhause sein wird. Während wir das Gepäck ausladen, höre ich, dass die anderen die Sauna schon angeheizt haben.
Und so hocke ich bald in dem erhitzten Raum, geniesse den Duft des Holzfeuers, während mir der Schweiss aus allen Poren rinnt. Lautes Prasseln auf das Dach knapp über mir lässt mich hochfahren, doch bevor ich einen ängstlichen Gedanken fassen kann, sagt Anna: „Da haben wir auch gleich eine Dusche bis zum See.“ Und wirklich, lachend und kreischend laufen wir die Schritte bis zum Ufer und springen ins kühle Wasser. Sofort spüre ich meinen ganzen Körper, fühle mich wohl und vital und guter Dinge.
Typ für den Süden? Ich lache und spucke Wasser aus. Eher ein Typ für den See. Ich schwimme noch ein paar Züge, fühle mich wunderbar getragen, vorbei an der Ente, die meinen Bewegungen mit den Augen folgt.
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