Auch eine Lektion
Von: Elisha
Mir fiel auf, dass Nicole nervös war. Sie sass vorn auf der Stuhlkante, wippte unruhig hin und her, fasste sich immer wieder ins Gesicht … So ganz anders als die Frau, die ich hier im Wartezimmer vor ein paar Wochen kennen gelernt hatte. Durch eine kleine Annonce waren wir auf diese Beratungsstelle aufmerksam geworden und hatten zur selben Zeit unsere Therapeutinnen zugewiesen bekommen.
Schon beim ersten Zusammentreffen hatten Nicole und ich Telefonnummern ausgetauscht und hatten schon Spaziergänge und Cafébesuche miteinander unternommen.
Ich fasste Mut und fragte einfach: „Bist du gerade in einer Krise?“ Die Sitzungen hatten auch bei mir heikle Themen ins Bewusstsein gehoben.
Als fühle sie sich ertappt, strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. „Nein, wieso?“
Jetzt war ich diejenige mit der nervösen Geste. Ich griff mir an die Nase, blickte auf den Boden, liess meinen rechten Fuss über den Boden scharren. „Nur so eine Idee …“
Nicoles Handy vibrierte, und sie beugte sich darüber, um die Nachricht zu lesen. Während der Sitzungen blieben die Telefone in unserer Jacke an der Tür, auf stumm gestellt.
„Hach“, sagte sie ungehalten, „ja natürlich komme ich heute!“ Sie tippte hastig und packte es weg.
„Dein Freund?“
„Nee, Evelyn. Meine Therapeutin!“
„Die schreibt dir aufs Handy?“ Ein Stich durchzuckte meine Brust. Meine Frau Liebers bevorzugte es, bei dem „Sie“ zu bleiben, und nach meiner Nummer hatte sie nicht gefragt. Die Sitzungen liefen gut, und allmählich wurde mir klarer, wie ich in manchen Situationen mit eigenen Anteilen verstrickt war. Aber gerade hatte ich den Eindruck, dass Nicole den Hauptgewinn im Therapeuten-Lotto gewonnen hatte. So viel Nähe hätte ich, deren Mutter in der Kindheit verstorben war, auch gern gehabt. Die Zuwendung einer mütterlichen Freundin war meine grosse Sehnsucht.
Nicole schob ihren Stuhl näher zu meinem, so dass sich unsere Knie berührten. „Ich weiss nicht …“, flüsterte sie mir zu. Ich beugte meinen Kopf zu ihr, und unsere blonden und braunen Strähnen vermischten sich. „Sag mal, spinne ich? Oder bin ich wieder dabei, mein Glück zu zerstören, wie es sonst mein Muster ist?“
„Was meinst du?“
„Na, Evelyn. Es lief gut die letzten Male, aber seit wir uns Sonntag auf der Ausstellung getroffen haben …“
„Sie geht mit dir auf Ausstellungen?“, platzte ich laut heraus. Wieder dieser Stich in der Brust.
„Nein, wir sind uns zufällig dort über den Weg gelaufen.“ Sie atmete hörbar ein und aus. „Aber sie hat mich angesprochen, und weil wir beide allein waren, sind wir noch in das Café im Museum gegangen.“
Ich stellte mir die Situation vor. Nicole einsam, weil ihr Freund wieder keine Zeit oder Lust hatte. Und Evelyn?
„Ich fand es zuerst ganz schön, und wir haben uns nett unterhalten. Über ganz banale Dinge wie Müesli zum Frühstück …“
„Aber?“ Seit ich mein Leben reflektierte, war ich sensibler bei anderen geworden, bekam öfter unausgesprochene Worte mit.
„Es fühlt sich komisch an.“ Nicole sah mir ins Gesicht. „Bin ich undankbar?“
„Ich finde, wenn es dich verwirrt, solltest du es ansprechen.“ Ich seufzte.
„Und am Montag hat sie mich angerufen. Ich dachte schon, sie wollte den Termin heute verschieben, aber sie hat eine andere Ausstellung vorgeschlagen, die wir nächste Woche besuchen könnten. Und gerade die SMS, ob ich denn zum Gespräch komme …“
„Weisst du, woran mich das erinnert?“ Nicole sah mich fragend an.
„Die Kinder, die ich unterrichte, mache ich immer darauf aufmerksam, dass sie Situationen, die sich „komisch“ anfühlen, verlassen sollen. Das gehört bei uns mit zum Programm zur Stärkung der Kinder gegen Übergriffe.
„Aber das mit Evelyn ist doch nicht sexuell! Sie steht auf Männer.“
„Das habe ich auch gar nicht gemeint. Trotzdem klingt es für mich aufdringlich. Wenn Evelyn ein männlicher Therapeut wäre, würde das was ändern?“
Nicole überlegte kurz. „Nee, das ginge gar nicht. Da hätte ich schon am Sonntag anders reagiert.“ Ihre Stimme klang fest. „Warum lächelst du mich so an?“
„Ich freu mich, dass du wieder klar bist in deinen Gefühlen. Dann weisst du auch, was jetzt zu tun ist.“
Mein Name wurde aufgerufen, und ich ging durch den Flur zum Beratungsraum meiner Therapeutin.
„Guten Tag, Frau Liebers“, sagte ich fröhlich und setzte mich auf einen der Sessel für die Klienten. Zum ersten Mal suchte ich nicht heimlich nach Zeichen von Nähe, sondern war dankbar, die Zeit gut für mich nutzen zu können. Dies war meine Sitzung, und dort eine kundige Frau, die mich mit ihrem Wissen unterstützen würde.
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