Hat sich das Digitalisierungsversprechen erschöpft?
Von: Jennifer Villarama
Der Glaube an die segensreichen Wirkungen der Digitalisierung ist seit geraumer Zeit weit verbreitet. Solche Zukunftsvorstellungen sind notwendig, um die Ungewissheit bei Entscheidungen über Innovationen zu überbrücken. So wird öffentliche Förderung, Finanzierung und günstige Regulierung im Hier und Jetzt ermöglicht. Dies geschieht auch dann, wenn sich die oftmals überzogenen Zukunftserwartungen nicht erfüllen. In einem Impulspapier zeigt der Soziologe Michael Faust vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), dass sich das Digitalisierungsversprechen erschöpft und was dies für die Entwicklung von Innovationen und Wirtschaft bedeuten kann.
„Die besten Zeiten von Big-Tech sind vorbei“ - so titelt das Handelsblatt im November 2022. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ fragt: „Was ist aus dem Versprechen geworden, es gehe immer nur aufwärts?“ Die FAZ verkündet Anfang 2023 „Die grosse Tech-Ernüchterung“.
Die Anzeichen mehren sich und werden vielfältiger. Die zuvor mit grosser Überzeugung vorgetragenen Digitalisierungsversprechen haben zu einem erheblichen Anstieg von Digitalisierungsprojekten in Unternehmen und zu einer beispiellosen Höherbewertung der Gewinner aus der Tech-Branche geführt.
„Diese Versprechen werden nun nicht mehr so vollmundig verkündet und verlieren an Glaubwürdigkeit. Dies gilt zum Beispiel für das autonome Fahren. Noch vor wenigen Jahren wurde von Herausforderern aus der Tech-Branche und von auf ‚disruptive‘ Innovationen spezialisierten Investoren prophezeit, dass das autonome Fahren zum ‚Game Changer‘ in der automobilen Welt werde. Die traditionellen Automobilhersteller würden dadurch zu subalternen Zulieferern der Tech-Branche, die drauf und dran seien, selbst autonome Fahrzeuge anzubieten“, konstatiert Michael Faust und fährt fort:
„Diese imaginierte Zukunft mobilisierte Investitionen der Hersteller, die Finanzierung der Herausforderer durch Investoren, Förderung und wohlwollende Regulierung durch die Politik. Heute hat sich weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich das Fahren unter allen Umweltbedingungen ohne Fahrer nicht realisieren lässt. Dadurch wird auch die Vorstellung obsolet, dass es in der Automobilbranche aus diesem Grund zu einer ‚disruptiven‘ Machtverschiebung kommt. Stattdessen reduzieren die Hersteller ihre Anstrengungen in diesem Segment und die Bewertung und Finanzierung von spezialisierten Anbietern aus der Tech-Branche bricht ein.“
Solche Enttäuschungen von Digitalisierungsversprechen lassen sich auch auf anderen Feldern wie dem E-Commerce und der Steuerung von industriellen Produktionsprozessen („Industrie 4.0“) zeigen. Die grossen Tech-Konzerne wie Amazon, Alphabet, Meta und Tesla stellen auf Kostensenkung um und reduzieren Personal; im Zuge dessen werden sie auch an den Kapitalmärkten neu bewertet.
So zeigt sich, dass auch Erwartungsenttäuschungen Wirkungen in der Gegenwart haben. Wie Fausts Impulspapier ausführt, kann das einerseits dazu führen, dass Digitalisierung nüchterner betrachtet wird: „Nunmehr werden die ausufernden Kosten, die steigende Komplexität und die Überziehung von Projektlaufzeiten registriert. In Unternehmen wird vermehrt nach dem ‚Wertbeitrag‘ von Digitalisierungsprojekten gefragt. All dies hat den positiven Effekt, dass Digitalisierung nicht mehr als Allheilmittel gilt und dadurch auch leichter alternative Lösungen für Probleme zum Zuge kommen können“, hebt der Göttinger Soziologe hervor.
So könnte deutlich werden, dass autonomes Fahren für eine geglückte Verkehrswende weniger wichtig ist als andere Lösungen. Andererseits können die durch die Enttäuschung des Digitalisierungsversprechens ausgelöste Investitionszurückhaltung und die Neubewertung von Unternehmen und Start-Ups zu wirtschaftlichen Verwerfungen führen, die mit einer Krise des Banken- und Finanzsystems einhergehen. Womöglich gibt der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank, die die Hausbank der Start-Ups im Tech-Sektor war, einen Vorgeschmack davon.
Kein Ende der Digitalisierung trotz erschöpfter Versprechen
Wenn sich das Digitalisierungsversprechen erschöpft, bedeutet dies allerdings nicht das Ende der Digitalisierung. Die Anwendung digitaler Technologien wird nun zwar kritischer betrachtet, Kosten und Nutzen sorgfältiger abgewogen und alternative Lösungsmöglichkeiten eher in Betracht und womöglich vorgezogen.
Zweifellos gibt es aber eine Vielfalt von Problemen, die von digitalen Technologien unterstützt besser gelöst werden können, und viele Bereiche, in denen es diesbezüglich Nachholbedarf gibt. Es kann jedoch als Pluspunkt verbucht werden, wenn die Digitalisierung nicht mehr als Allheilmittel gilt und damit zum Selbstzweck wird, sondern geprüft wird, wo sie nützlich ist und wo womöglich andere Lösungen für drängende Probleme ins Auge gefasst werden sollten. Eine digitale Schule ist noch keine gute Schule und autonome Autos – wie bereits erwähnt - nicht die geglückte Verkehrswende. Wenn sich Politik und Wirtschaft hierauf besinnt, ist das sicherlich kein Schaden.
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