Fischotter - Ein Totgesagter kehrt zurück
Von: Hansjakob Baumgartner
Seit den späten 1980er-Jahren gilt der Fischotter in der Schweiz als ausgestorben. Doch nun feiert die noch im letzten Jahrhundert als Fischräuber erbarmungslos verfolgte Art bei uns ein Comeback. Das hätte ihr vor zwanzig Jahren niemand zugetraut.
Die zunehmende Renaturierung der Fliessgewässer schafft gute Voraussetzungen für die Rückkehr des Fischotters. (Foto: Pro Lutra )
Sie erscheinen wie Irrgäste aus dem Nichts: In jüngster Zeit sind an verschiedenen Orten der Schweiz Fischotter (Lutra lutra) aufgetaucht - so zum Beispiel am Rhein bei Domat/Ems (GR). Hier filmte eine Videokamera, die man zwecks Erfolgskontrolle bei der Fischtreppe des Kraftwerks Reichenau montiert hatte, im Winter 2009/2010 zweimal einen Otter. Handelte es sich um ein flüchtiges Tier aus Gefangenschaft? Tatsächlich war zweieinhalb Jahre zuvor ein Männchen aus einem Gehege bei Männedorf (ZH) entwichen. Oder war es ein Einwanderer aus Österreich? Auch dies ist nicht ganz unmöglich, obwohl das nächstgelegene Ottervorkommen in der Steiermark doch sehr weit vom Alpenrhein entfernt liegt.
Nachweislich österreichischer Abstammung war hingegen das 2013 bei Prato (TI) von einem Auto überfahrene Tier. Und höchstwahrscheinlich handelt es sich auch bei den in der Westschweiz beobachteten Ottern um Einwanderer: Im Dezember 2011 sowie ein Jahr später hinterliess ein Individuum im Unterwallis Spuren im Schnee. Ein anderes löste im Mai 2014 an einem Genfer Fluss eine automatische Kamera aus, die zur Beobachtung der hier ansässigen Biber installiert war. In beiden Fällen erscheint die Herkunft klar: An der Rhone unterhalb von Genf und an ihren Zuflüssen auf französischem Gebiet sind in den vergangenen Jahren mehrmals Otter gesichtet worden.
Vorzeitig verabschiedet
Die Irrläufer könnten Vorboten einer Wiederbesiedlung der Schweizer Gewässerlandschaft sein. Es macht den Anschein, als kehre eine bereits totgesagte Art zurück. «Unser Land ist für Fischotter nicht mehr geeignet, ja voraussichtlich auf Jahrzehnte hinaus zu lebensfeindlich», heisst es im Schlussbericht der Fischottergruppe, den das damalige BUWAL 1990 publizierte. Dieses Gremium von Fachleuten evaluierte seinerzeit die Chancen einer Wiederansiedlung der Art. Kurz zuvor hatte der Wildtierbiologe Darius Weber am Neuenburgersee letztmals einen wild lebenden Wassermarder auf Schweizer Gebiet nachgewiesen.
Die Fische unserer Gewässer seien zu stark mit Giften aus der Klasse der Polychlorierten Biphenyle (PCB) verseucht, begründete die Expertengruppe ihre pessimistische Einschätzung. Die sehr langlebigen PCB waren hierzulande bis zum ersten Verbot in den 1970er-Jahren als vielseitig verwendbare Werkstoffe verbreitet - sei es als Kühlmittel, als Isolierflüssigkeit in Transformatoren und Kondensatoren, Schmiermittel oder Weichmacher.
Einmal in die Umwelt gelangt, reichern sie sich in Organismen entlang der Nahrungskette an. So weisen Fische schon um das Hunderttausendfache höhere Gehalte auf als das Wasser, und im Fischotter sind die Konzentrationen nochmals tausend Mal stärker aufkonzentriert. Chemisch gleichen PCB Geschlechtshormonen und wirken bei verschiedenen Tieren wie Anti-Baby-Pillen. Deshalb gingen die Fachleute davon aus, der Fischotter könne sich bei uns nicht mehr fortpflanzen.
Der Schutz kam zu spät
Allerdings bleibt diese These unter den europäischen Otterfachleuten umstritten. Einen schlüssigen Beweis dafür gab es nie. Kritiker verwiesen auf die hohen PCB-Gehalte in schottischen Fischottern, die sich dennoch wacker vermehrten. Im Rückblick erscheint es heute wahrscheinlicher, dass das Schicksal der Wassermarder in der Schweiz schon vor der Verbreitung von PCB in der Umwelt besiegelt war.
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt hierzulande der gesetzliche Auftrag, «die Ausrottung von Fischottern (…) und anderen der Fischerei besonders schädlichen Tieren (…) möglichst zu begünstigen». Dokumente aus dem Archiv des Berner Jagdinspektorats zeigen, mit welcher Gründlichkeit diese Anordnung noch in den 1940er-Jahren umgesetzt wurde.
Als der Otter 1952 endlich unter Schutz kam, war der «point of no return» vermutlich bereits überschritten. Der Restbestand von wenigen versprengten Individuen konnte sich nicht mehr erholen - zumal angesichts der damals unter den Fischern verbreiteten Stimmung gegen das «Lumpenviech» nicht anzunehmen ist, dass die Verfolgung nach 1952 gänzlich endete.
Renaissance in den Nachbarländern
Diesbezüglich haben sich die Verhältnisse gebessert. Der Otter ist heute in ganz Europa geschützt, und zwar nicht nur auf dem Papier. Der erwähnte Bericht «Das Ende des Fischotters in der Schweiz» fiel 1990 denn auch in eine Zeit des Neuanfangs. Manche europäische Fischottervorkommen hatten den Tiefpunkt überwunden, legten zahlenmässig wieder zu und breiteten sich aus.
So wurde Österreich, das zeitweilig ebenfalls nahezu otterfrei war, von Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien aus wiederbesiedelt. Die Art habe sich seit 1999 «unglaublich stark ausgebreitet», heisst es im Bericht zu einer 2008 durchgeführten Erhebung über deren Präsenz in Niederösterreich. Der damals auf 300 bis 500 Individuen geschätzte Gesamtbestand hatte sich innert zehn Jahren verdoppelt. Auch in Frankreich geht es mit dem Fischotter seit Jahren wieder aufwärts. Von seinen Kerngebieten im Massif Central sowie entlang der Atlantikküste breitet er sich zügig aus.
Auf dem Weg zurück in die Schweiz
Hat die Art auch bei uns wieder Lebenschancen? Am PCB-Problem wird das Comeback wohl nicht scheitern. «PCBs in den Fischen setzen den Ottern zwar zu, doch sie sind sicher nicht der Killerfaktor», betont Sandra Gloor, Geschäftsführerin der Stiftung Pro Lutra, die dem Wassermarder den Weg zurück in die Schweiz ebnen will. Dank dem PCB-Verbot sind die Gehalte des Gifts in den Schweizer Fischen seit 1990 ohnehin spürbar gesunken.
Eine andere Frage ist, ob die hiesige Gewässerlandschaft noch als Lebensraum taugt, denn sie hat sich seit dem Verschwinden des Otters zweifellos zu seinem Nachteil verändert. Allerdings sind dessen Biotopansprüche durchaus nicht weltfremd. Zwar brauchen die Tiere ein Minimum an Strukturreichtum in den Flüssen und Bächen. Indessen prosperiert die Art mancherorts in Europa auch in stark zivilisatorisch geprägten Gewässern.
Projekt «Lutra alpina»
Das 2010 von der Stiftung «Pro Lutra» lancierte Projekt «Lutra alpina» soll zeigen, wie sich der Fischotter in Gewässerlandschaften des Alpenraums zurechtfindet. Als Untersuchungsgebiet dienen die Täler der Mur und der Mürz samt ihren Zuflüssen in der Steiermark und in Niederösterreich. Deren Gewässer sind keinesfalls vom Menschen unberührt, sondern werden zum Teil für die Stromerzeugung genutzt. Es gibt Industriebetriebe, ausufernde Siedlungen und intensive Landwirtschaft.
«Die Gegend erinnerte mich stark an Täler in den hiesigen Voralpen und im Emmental», berichtet die Schweizer Wildtierbiologin und Projektmitarbeiterin Irene Weinberger. Sechs Weibchen und drei Männchen wurden gefangen, mit Sendern ausgerüstet und danach über einen Zeitraum von sechs Monaten bis zu drei Jahren mittels Peilgerät verfolgt. Im März 2013 endeten die Feldarbeiten.
Zurzeit ist Irene Weinberger daran, die Daten auszuwerten und zu einem Lebensraummodell der Fischotter zu verarbeiten. Danach will man prüfen, ob dieses Modell auch für Teile der hiesigen Gewässerlandschaft passt. «Ein entscheidender Faktor für die Wiederbesiedlung könnte der Fischbestand sein», sagt Caroline Nienhuis von der Sektion Wildtiere und Waldbiodiversität beim BAFU. Ein ausgewachsener Otter braucht täglich rund 1 kg Fisch.
Geschrumpfte Nahrungsbasis
Die Forellenfänge in unseren Bächen und Flüssen haben seit 1980 um annähernd drei Viertel abgenommen. Fangertrag und Bestand sind zwar zwei Paar Stiefel, und die Bachforelle ist nur eine von 63 einheimischen Fischarten. Dennoch bestehen kaum Zweifel, dass die Fischbestände in den hiesigen Fliessgewässern in letzter Zeit spürbar geschrumpft sind.
Als ausreichende Nahrungsgrundlage für den Otter gelten 100 kg Fischbiomasse pro Hektar Wasserfläche. Es gebe in der Schweiz noch manche Gewässer, welche diese Voraussetzung erfüllten, stellt der Fischereibiologe Armin Peter vom Wasserforschungsinstitut Eawag fest. Ob dies aber auch für ganze Gewässersysteme der Fall ist, die gross genug sind, um eine vitale Population zu beherbergen, muss sich zeigen.
Hilfreich ist sicher die neue Philosophie im Wasserbau, die darauf abzielt, den Bächen und Flüssen mehr Raum zu lassen, was deren Abfluss bremst und die Hochwasserspitzen dämpft. Verbaute Fliessgewässer werden so wieder dynamischer, natürlicher und als Folge davon auch fischreicher. Der Otter hat den Zeitpunkt für sein Comeback also nicht schlecht gewählt.
«Fürs Fricktal – fricktal24.ch – die Internet-Zeitung»