Elterngespräch
Von: Elisha
Die Sonne knallte unbarmherzig auf das Blechdach des Wagens. Heinrich hatte schon beide Fenster geöffnet und fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Haare, so dass sie sich wie die Halme eines ungemähten Rasens aufstellten. Seine Stirn war triefnass, und auf beiden Seiten seines Nasenrückens rannen Ketten von zusammenhängenden Tropfen hinunter zum Mund. Das Wetter, das sich am Ufer des Rheins oder im heimischen Garten wunderbar anfühlte und zu gekühlten Getränken und fruchtigen Eisbechern verlockte, war eine einzige Qual in dem engen Innenraum des Fahrzeugs, ganz zu schweigen von dem kalten, abgestandenen Rauchgeruch, der aus dem spärlich genutzten Aschenbecher quoll.
Musst du rauchen, wenn ich mit im Wagen sitze?“, hatte sein Sohn David gemurrt.
„Anstatt dass du froh bist, dass ich dich mitnehme!" Er war verärgert gewesen. Schliesslich rauchte Heinrich die einzige Zigarette des Tages immer nur bei der ersten Fahrt zur Arbeit. „Du bist masslos mit deinen Ansprüchen!“
„Schon mal was von Passivrauchen gehört?“ Sein Sohn hatte den höhnischen Tonfall draufgehabt, den er mit Anfang der Pubertät entwickelt hatte und seitdem nutzte, um ihn zum Rasen zu bringen. „Was ihr uns alles angetan habt, als wir klein waren!“
Es war nicht die erste Diskussion dieser Art gewesen. Angefangen hatte es, als David und seine Schwester das Foto von ihrer Mutter entdeckt hatten, auf dem sie mit dem Stummel zwischen Zeige- und Mittelfinger das eine Kind auf dem Schoss, das andere zu ihren Füssen gehalten hatte. Beide hatten protestiert, sogar von Körperverletzung war die Rede gewesen. Als wenn sich damals jemand Gedanken darum gemacht hätte!
„Als ich klein war, gab es auch noch keine Haltegurte im Auto!“, hatte Heinrich von oben herab von sich gegeben. „Seltsam, dass wir überhaupt überlebt haben!“
„Jetzt kommt wieder die Leier“, hatte David gestöhnt. „Ja, ich weiss, wir sind alle Weicheier, weil wir uns an die Regeln halten. Und deshalb fahre ich nicht gern mit dir. Halte bitte an.“ Und dann war er ausgestiegen, um den Rest zu Fuss zu gehen.
Heinrich schnaubte bei dem Gedanken. Ärger und Hitze und jetzt noch der Stau! Ungeduldig rieb er mit dem Zeigefinger über die Stelle zwischen Mund und Kinn, überrascht, wie schmierig sich diese Stelle schon wieder anfühlte. Hinter ihnen, noch weit entfernt, hörte er eine Sirene. Das Schild an der Brücke über ihnen erinnerte daran, eine Rettungsgasse zu bilden, damit Krankenwagen und Polizei zur Unfallstelle vor ihnen durchkamen. So fuhr er, wie die anderen, zur Seite und liess die tönenden Fahrzeuge durch. Als letztes näherte sich jetzt noch ein Abschleppwagen.
Kaum war der vorüber, zog Heinrich aus einem plötzlichen Impuls heraus das Lenkrad herum und fuhr dem Wagen hinterher, in der Mitte durch die stehenden Autoschlangen. Ungläubige Blicke der Wartenden begleiteten ihn, die in ihm eine Mischung aus schlechtem Gewissen und einem Gefühl der Kühnheit verursachten. Je mehr Meter er aber hinter sich brachte und je zügiger er hinter dem Abschleppwagen herfuhr, umso mehr wandelte sich sein Innenleben in ein Triumphgefühl, das er mit einem zufriedenen Grinsen ausdrückte.
„Man muss eben auch wissen, welche Regeln man brechen kann“, setzte er im Geist die Diskussion mit seinem Sohn fort. „Und das gibt nur die Erfahrung des mittleren Alters!“
In seiner Vorstellung nickte David zustimmend, gegen seinen Willen beeindruckt von seinem alten Herrn.
In dem Augenblick stoppte der Abschleppwagen vor ihm abrupt, weil zwei Autos zu eng zusammen standen. Bevor sich Heinrich versah, knallte er mit einem entsetzlich lauten Getöse auf den Wagen vor ihm, und sein Körper wurde von dem prallgespannten Gurt aufgefangen. Wie in Zeitlupe konnte er zusehen, wie die Schnauze seines Wagens immer mehr an Länge verlor, und der Motor verstummte auf der Stelle.
Was ursprünglich ein unbedeutender Unfall mit eher geringem Schaden gewesen war, entwickelte sich jetzt zu einem Grossereignis. Wie sich herausstellte, hatte der Aufprall Heinrichs Wagen so massiv beschädigt, dass ein zweiter Abschleppwagen zur Unfallstelle beordert werden musste. Er blickte in wütende Gesichter ringsum, schliesslich mussten alle seinetwegen noch eine Stunde mehr warten, und irgendwann auch in eine Fernsehkamera, durch den Kommentar des Reporters beschämt. Doch alles, selbst die Aussicht auf das saftige Bussgeld und die teure Reparatur, schreckten ihn nicht so sehr wie das Gespräch mit seinem Sohn, das er würde führen müssen.
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