Schwesterliebe
Von: Elisha
Einzelne Tropfen lösten sich aus der Wolke über mir und klatschten mir auf die Regenjacke. Noch ein paar Schritte, und ich würde es in den Laden schaffen, ohne ganz durchnässt zu werden.
„Pit!“, ertönte eine Stimme hinter mir, die ich erkannte, ohne mich umdrehen zu müssen.
„Ich heisse Peter“, wollte ich erwidern, aber Julias Worte klangen in meinem Ohr: „Sei nett zu ihr.“
“Hi Nadja.“ Ich drehte mich schwungvoll um und nickte ihr zu. „Auch noch was einkaufen?“
Ich hielt unter dem Dachvorsprung an, und Nadja verlangsamte ihre Schritte.
„Ähm ...“ Sie schien es nicht eilig zu haben, in das Geschäft zu kommen.
„Na, musst du wieder allein einkaufen, weil Julia keine Lust hat?“
„Sie ist heute müde, und ich ...“, setzte ich an.
„Ach was, sie ist sich einfach zu gut dazu.“ Nadja rollte die Oberlippe angeekelt nach oben. „Und du musst sie wieder bedienen!“
„Nadja, du verstehst das nicht ...“ Ich versuchte, ruhig zu bleiben, wie Julia es vorgeschlagen hatte.
„Sie war doch immer schon so ein verzärteltes Fräulein. Die ganze Familie musste springen, besonders ich.“
Ich atmete tief durch, überlegte, was ich sagen konnte, um die Situation nicht weiter anzuheizen. „Vielleicht wäre es gut, wenn du die Vergangenheit ruhen lassen könntest. Kannst du Julia nicht mal so sehen, wie sie ist?“
Nadja schnappte hörbar nach Luft. „Glaubst du mir nicht? Ich kann dir hundert Beispiele liefern.“
Ich sah in den grauen Himmel, aus dem jetzt gleichmässig feine Tröpfchen nieselten. Mir kam der Verdacht, dass sie mich abgepasst hatte, nur um auf mich einzureden. Aber wozu? Was bezweckte sie bloss?
„Sie will dich retten“, hatte Julia mal mit einem Zwinkern gesagt. Wenn sie gut genug drauf war, erinnerte sie uns daran, sich nicht auf Nadjas Ebene zu begeben. „Natürlich lädt das ein, zurückzuschlagen, auch mal was Verletzendes zu sagen. Aber tu es nicht; lass dich nicht auf ihre destruktive Art ein.“
„Ich versteh nicht, wie du das all die Jahre über aushältst.“
„Aber sie ist doch meine Schwester ...“
Nadja hatte sich in Fahrt geredet, sprudelte Begebenheiten hervor über die Ungerechtigkeit des Lebens. Ich betrachtete sie, wie sie ihre Arme in die Hüften stemmte. Schwestern haben im Durchschnitt fünfzig Prozent der Gene gemeinsam, aber ich konnte keine Ähnlichkeit entdecken. Nadja war in allem etwas runder und gedrungener, und ihr Gesicht mit der Stupsnase war näher an dem Kindchenschema als Julias, was sie auch gern mit schmollenden Lippen einsetzte, um niedlich zu wirken.
„ ...und Julia ist eine Kröte, die sich überall einschleimt.“ Ich konnte nicht fassen, welche Sätze aus ihrem Puppengesicht strömten, und sie schien sich ihrer Bosheit gar nicht bewusst zu sein.
Wie beim letzten Mal, als Julia Nadjas Feindseligkeit zu spüren bekommen hatte. Mit Tränen in den Augen hatte Julia gestammelt: „Wie kann sie mich bloss so hassen? Sie kann mir einfach nicht vergeben.“
„Was meinst du?“
„Na, weisst du, für Nadja ist ihre Welt zusammengebrochen, als ich geboren wurde. Ich habe sie als Zweijährige von ihrem Thron gestossen.“
„Aber das ist doch über dreissig Jahre her! Willst du ein Leben lang dafür büssen?“ » Und ich hatte sie ganz fest gehalten und ihr die Tränen weggeküsst.
„Ich kann überhaupt nicht verstehen, was du von Julia willst!“ Hatte Nadja das jetzt wirklich gesagt? Natürlich verstand sie es nicht, denn in ihrer Welt von Schuldzuweisung und Vorwürfen war kein Raum für die Art von Beziehung, wie Julia und ich sie führten, als lebten wir in einer unbekannten Dimension. Wie sollte sie ein Gefühl davon haben, wie lange wir aufeinander gewartet hatten, wie gut sich die Beziehung anfühlte, wie dankbar wir täglich waren, uns über den Weg gelaufen zu sein?
Ich dachte daran, dass wichtiger als die Gene die Entscheidungen sind, die wir treffen. Und während Nadja der ganzen Welt die Schuld gab, legte ich kurz den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Stopp. Jetzt ist es wirklich genug!“
Ungläubig starrte sie mich an, dann meinte sie unwirsch: „Du bist auch nicht besser als sie!“ Sie drehte sich um und liess mich stehen.
Ich ging in die Richtung der Ladentür, doch bevor ich durch die Glasscheiben verschwand, hörte ich noch ein „Du kannst mich mal!“ Nur kurz stellte ich mich in den Regen, um beim Prasseln auf meine Kapuze durchzuatmen. Als ich spürte, wie alles abperlte, schüttelte ich mich und ging in den Laden.
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