Vom Leben übrig
Von: Elisha
Als ich die Eingangstür öffne, erwarte ich Pfotentapsen und lautstarkes Gebell, doch alles bleibt still. „Ach nein!“, denke ich ängstlich, und ein Stich fährt mir durch die Brust. Schliesslich ist die Lady zwanzig Jahre alt, ein stattliches Alter für einen Dackel. Und wo ist Marcus, mein Freund? Sein Auto steht doch vor der Haustür. Vielleicht sind sie ja draussen für einen nächtlichen Spaziergang, hoffe ich, doch die Leine an der Garderobe sagt etwas anderes.
Irgendwie ahne ich, dass ich nicht erst in Küche oder Wohnzimmer nachsehen sollte, und so mache ich mich auf in den Schlafraum, der fast gänzlich von dem riesigen Bett ausgefüllt wird. Das Schnarchen, das mich empfängt, gibt mir recht, und das Bild entschädigt mich für meine Sorgen. Da liegt Marcus diagonal auf unserer Schlafstätte, und in der hinteren Ecke kauert Lady mit der Schnauze ausgestreckt auf seinem Knie. Aus beiden Körpern tönt ein Pfeifen, und ich muss unwillkürlich lachen.
Das reicht! So taub sie fast geworden ist, springt sie jetzt auf und stürmt begeistert auf mich zu, über den menschlichen Körper dazwischen, und mit aufgeregtem Bellen begrüsst sie mich wie üblich. Vom Bett aus kann sie viel höher an mir hochspringen, als sie das sonst im Flur schafft, und spätestens jetzt ist Marcus wieder hellwach.
„Ach, du bist schon da? Ich wollte mich nur mal kurz ausruhen“, erklärt er mir die Situation. Nicht nötig, er ist noch in Jeans und Pullover und liegt auf der Decke, und es ist auch nicht das erste Mal, dass er einen Abend ungewollt verschlafen hat.
Ich nehme Lady auf den Arm, und ihre inzwischen weissbehaarte Schnauze wischt mir durch das Gesicht, bedeckt es mit kleinen, feuchten Küssen. „Igitt, Lady, lass das!“, rufe ich aus und lasse sie wieder hinunter.
„Soll ich noch mal mit ihr rausgehen?“, frage ich zu Marcus hin.
„Können wir zusammen!“, ist seine Antwort. „Ich ziehe mir nur mal eben Schuhe an.“
Inzwischen hat Lady bemerkt, dass ich immer noch meine Jacke trage, und aufmerksam nimmt sie unter der Garderobe Platz. Dabei habe ich noch gar nicht das Zauberwort gesagt. Als ich die Leine vom Haken nehme und frage: „Willst du rausgehen?“, ist kein Halten mehr, und ich öffne schon mal die Tür.
Bei unseren neuen Nachbarn steht die Wohnungstür halb offen, und ein Geruchsgemisch nach frischen Farben und Putzmittel dringt durch den Spalt. Mitten in ihrem Trott, die Etage des Treppenhauses abzuschnüffeln, hält Lady inne und bleibt wie angewurzelt sitzen. Ich denke daran, wie lange sie gebraucht hat, unsere Wohnung und nicht die nebenan als ihr Heim anzuerkennen.
Wie oft hat sie heulend vor der Tür gesessen, und ich hatte schon befürchtet, dass wir der alten Frau Bramsche sagen müssten, dass es einfach nicht klappen würde.
Das letzte Mal, als die Tür so offen stand, hatte ich nur ihre Tochter angetroffen. Sie war gerade dabei, die letzten Sachen zu sortieren, Habseligkeiten der alten Dame. Schuhe und Kleidungsstücke lagen im Flur verstreut, angeschlagene Tierfiguren aus Keramik und Porzellan standen aufgereiht auf einem kleinen Schränkchen, und die junge Frau Bramsche schüttelte immer nur den Kopf und wischte sich Tränen aus den Augen.
„Ist es das, was von einem Leben übrig bleibt?“, fragte sie verzweifelt. „Für das Heim ist es viel zu viel, das kriegen wir ja gar nicht unter.“
Seltsamerweise war das der Tag, als Lady bei uns richtig heimisch wurde. Mit den letzten Einzelteilen, entsorgt von der Entrümpelungsfirma, gab es auch nichts mehr, was sie in die Nachbarwohnung zog.
Auch jetzt hat sie sich gefangen und lässt sich bereitwillig von Marcus die Treppen hinunter tragen, wie wir das zur Schonung ihrer Hüftgelenke immer tun. Und unten an der Haustür gehorcht sie ihm wie ein richtiger Dackel aufs Wort. Als er fragt: „Kommst du nun oder kommst du nicht?“, tut sie es. Sie kommt oder kommt nicht. Wie üblich.
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