Eiszauber
Von: Elisha
Wie ein dreckiger Müllsack steht der Haufen in unserem Vorgarten. Die weissen Kristalle, die vor Tagen die Nachbarskinder in ihrem Garten zu einem Schneemann gerollt haben, kleben bei uns zusammen unter einer gräulichen Schicht aus Strassenschmutz und Split.
Claude Monet - Impression, Sonnenaufgang, 1872, Musée Marmottan in Paris (wartburg.edu)
Manuel war begeistert gewesen, ihn anzuhäufen; mit jedem Kratzen über das Trottoir und jeder Ladung der breiten Schaufel hatte er die weisse Masse über die niedrige Hecke gewuchtet und sich dann an der Messbarkeit seiner Arbeit erfreut. Inzwischen beachtete er nicht mehr das geschrumpfte Etwas, das seitdem der Sonne und den wieder höheren Temperaturen zu trotzen versucht, wie ein leuchtender Eishügel über einer inzwischen wieder grünen Ebene.
Ich zeichne ihn. Jeden Tag arbeite ich mich an ihm ab, aber es gelingt mir nicht. Ich habe mit Bleistift angefangen, dann Kohle eingesetzt, um grosszügig die Konturen und Schatten festzuhalten. Dann habe ich es mit Farbe versucht, bläuliche und türkise Akzente auf dem hellen Untergrund des Aquarellpapiers gesetzt. Aber noch keins meiner Bilder hat mir gefallen oder mich mit Stolz erfüllt.
Ich knülle meinen letzten Versuch mit den feucht ineinander verlaufenden Farben mit beiden Händen zusammen und werfe die matschige Kugel von meiner Staffelei aus in den Papierkorb. Kurz kommt mir der Gedanke, ob ich mich vielleicht an einer Skulptur erproben sollte. Pappmaché als Material häuft sich ja schon in dem Eimer an der Wand gegenüber. Aber ein grauer Berg aus Glitsch? Wer könnte dem denn etwas abgewinnen?
Wenn Manuel jetzt da wäre, würde er mir tröstend über die Haare streicheln, besonders die eine Locke, die nie richtig liegt. Ich habe die Sorge in seinen Augen gesehen, vermutlich vermischt mit Schuld. Schliesslich war er es gewesen, der mich zur Ausstellung eingeladen hat, und auch nur, um mir eine Freude zu machen.
„Willst du mal wieder etwas unternehmen?“, hat er in bemüht neutralem Ton gefragt, ohne seine Begeisterung verstecken zu können. „Möchtest du etwas Schönes sehen? Dann entführe ich dich in ein Meer von Licht und Farben!“
Er hatte zwei Eintrittskarten präsentiert, wie der Mann vor Jahren in einem Werbespot, der mit „Sie immer noch überraschen zu können – unbezahlbar!“ kommentiert worden war. Ich wusste, ich sollte mein glückliches Gesicht aufsetzen. Schliesslich hatte er mich überrascht, und es war auch genau das, was zu anderer Zeit Begeisterungsstürme in mir ausgelöst hätte. Eine Monet-Ausstellung in Basel, so etwas Schönes so nahe bei, und er hatte die ersten Schlagzeilen dazu entdeckt. Ich liebe ihn.
Es war auch ein wunderschöner Tag in dem lichtdurchfluteten Museum, die farbigen Bilder vor den neutral-grauen Wänden, und ich hatte Manuels prüfenden Blick immer wieder von der Seite auf mir gespürt, um mein Wohlergehen bemüht. Er wusste, dass ich die Bilder liebte. Schliesslich hatte ich ihm bei unzähligen Gelegenheiten zuvor Vorträge gehalten über Komposition und Farbauswahl. Und trotzdem spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war, obwohl ich mein Bestes gab, normal zu wirken.
Ich versuchte, mein professionelles Ich herauszukehren, mein Augenmerk auf die unscheinbaren Unterschiede von Perspektive und Stimmung bei den wiederkehrenden Motiven zu richten. Wie oft hatte Monet die Seine gemalt?
Aber es war die Wärme der Farben, egal bei welchem Thema, die in so klaffendem Gegensatz zu der Leere in mir stand und mich diese umso mehr spüren liess. Warum hatte mich Manuel nicht in ein altes Fabrikgebäude eingeladen, dessen robuster Charme aus alten, unbedeckten Rohren und rauen, nicht verputzten Wänden bestand? Das würde mein Inneres zur Zeit viel besser widerspiegeln. Nach meinen Andeutungen lud er mich sogar zu einem Besichtigungstermin in ein Gemeinschaftsatelier ein, aber selbst dort waren die Räume von Oberlicht und Fensterfront durchflutet und luftig hoch gewesen.
Ich stehe immer noch vor dem Fenster, starre auf die Schneehalde in unserem Vorgarten, und das Märchen von der Schneekönigin kommt mir in den Sinn.
„Vielleicht ist das ja ihr verborgener Palast, mit unzähligen leeren, kalten Eissälen, die vom Nordlicht beschienen werden“, fantasiere ich vor mich hin. Und während wandelnde Bilder in meinem Kopf entstehen, sind meine Hände geschäftig, und beschwingt male und male ich mit meinen Kreiden. Zum ersten Mal hält das Bild meinem Urteil stand, scheint ein unsichtbarer Spiegelscherben aus meinem Gemüt entfernt zu sein.
Ich gehe zu meinem Schreibtisch hinüber und krame in dem Stapel von Flyern und Zetteln, die ich vom Museum mitgebracht habe. Und richtig, das Angebot gibt es tatsächlich. Und während ich die aufgedruckten Daten mit meinem Wandkalender vergleiche, bin ich mir sicher, dass ich nicht zum letzten Mal in der Ausstellung war. Jetzt muss ich „Meditation am Morgen“ dort nur buchen.
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