Spiegelungen
Von: Elisha
Es war Zufall, dass sie es bemerkte. Anne trug einen schweren Wäschekorb von Zimmer zu Zimmer, um jedem Familienmitglied die frisch gewaschenen Kleidungsstücke aufs Bett zu stapeln. Absprache war, dass jeder Bewohner seine Klamotten selbst auf Kleiderbügel im Schrank oder auf Regalbretter oder in Schubladen packte.
Bei Ruben klappte das nicht immer. Mal schob er seinen Stapel nur an die äusserste Ecke seines Bettes, um dann seinen Kopf neben Hosen, Pullover und Socken zu betten. Oder er packte den ganzen Stapel auf den Teppich neben dem Bett und vergass ihn, bis er in sich zusammen fiel und sich die frischen Sachen allmählich mit verschwitzten Hemden und getragenen Unterhosen vermischte.
Marie hingegen konnte es kaum abwarten, ihre Wäsche farblich sortiert einzuräumen und alles an seinen Platz zu legen oder zu hängen. Deshalb fiel Anne, als sie den Raum betrat, auch sofort der verhängte Spiegel auf. Ein dickes Laken hing über seiner schimmernden Oberfläche, so dass kein Lichtstrahl zurückgeworfen wurde.
„Ruben, hast du was damit zu tun?“, nahm sie ihren Sohn beiseite und ahnte einen neuen Scherz gegen die Schwester.
„Ich darf doch gar nicht mehr in ihr Zimmer“, erwiderte er beleidigt und zeigte auf das rosafarbene Eingangsschild an ihrer Zimmertür, das in glitzernden Buchstaben verkündete: „Maries Welt, Eltern willkommen, Ruben nicht!“
„Als wenn du dich daran halten würdest“, murmelte Anne so leise, dass er es nicht verstehen konnte. Lauter fügte sie hinzu: „Du hast ihr also nicht eingeredet, dass sie dick oder hässlich ist?“
„Nicht in letzter Zeit“, dachte Ruben laut nach. „Könnte ich eigentlich mal wieder machen, schliesslich ist sie meine Schwester!“
„Untersteh dich!“ Anne nahm sich für den Abend ein Gespräch mit Steffen über die Erziehung ihres Stammhalters vor.
Sie rief die Person an, die sie in solchen Situationen gewöhnlich um Rat fragte. „Mutti, kannst du dir vorstellen, warum Marie den Spiegel verhängt hat?“
Irene, Annes Mutter, konnte es. Andererseits hatte sie auch eine besondere Kindheit hinter sich. Schliesslich war sie in einem Kloster zur Schule gegangen, und die Nonnen hatten sich gemeinsam bemüht, jeden Übermut in den kleinen Schülerinnen auszumerzen. Sie hatten lange Lineale mit sich getragen, und am ersten Schultag hatte sich Irene gefragt, was sie denn wohl so viel zu messen hätten. Dann hatte sich Donatella erlaubt, in der Pause einen Witz zu erzählen, und das Lineal war ihr auf die Hand geschnellt und hatte dort einen roten Striemen hinterlassen. Freche Bemerkungen, der Stift in der falschen Hand, das Summen im Unterricht hatte immer die gleichen Folgen gehabt. Dazu passte dann auch die Sünde, zu lange in den Spiegel zu starren. „Das würde den Hochmut nähren“, hatten die Nonnen den Kindern erzählt. Doch den riesigen Spiegel in der Eingangshalle hatten sie als Prüfung stehen gelassen, mit der Warnung, dass „das liebe Jesukind“ eitle Mädchen mit Warzen bestrafen würde. Niemand hatte ihr geglaubt, als die ersten Windpocken in ihrem Gesicht erschienen…
„Vielleicht ist das ja auch eine Gegenreaktion“, gab sie ihrer Tochter zu bedenken. „Heutzutage ist es doch eine Pflicht für Mädchen in ihrem Alter, um jeden Preis gut aussehen zu müssen. So wie es für uns damals ein Vergehen war, sich zu lange mit dem Spiegelbild zu beschäftigen, kostet es heutzutage Mut, sich davon zu lösen und es nicht so wichtig zu nehmen.“
In dem Augenblick hörte Anne, wie sich die Haustür mit dem gewohnten krächzenden Laut öffnete. » „Ich muss Schluss machen, Marie ist zurück“, sagte sie ihrer Mutter zum Abschied. „Danke für den Denkanstoss!“
Während sich ihre Tochter durch die Diele näherte, überlegte Anne krampfhaft, wie ein guter Einstieg ins Gespräch sein könnte. Sie wollte ihre Tochter ja nicht verschrecken. Irgendein Einstieg, um dann zum Thema Körperbild zu kommen.
„Ach Mama“, begann Marie schon beim Eintreten und gab ihr einen Kuss auf die Wange, „ich habe mir zum neuen Bettbezug ein passendes Laken gekauft. Gewaschen habe ich es schon, es trocknet jetzt am Spiegel. Sag mal, muss ich das auch noch bügeln?“
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