Des Lebens müde
Von: Elisha
Es dauerte etwas, bis Julene mit kleinen Schritten im Speisesaal ankam. Mittlerweile hatte sie sich aufgrund des matschigen Wetters und der glitschigen Blätter angewöhnt, draussen den Rollator zu benutzen, aber im Heim reichte immer noch der Gehstock mit dem Perlmuttgriff. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass auf dem Platz von Frau Pritt schon wieder jemand sass. Dabei war das doch gerade eine Woche her! Sie nickte dem Mann in Schwarz kurz zu und setzte sich dann auf ihren Stuhl am Fenster, das mit Strohsternen und einer warmweissen Lichterkette geschmückt war.
Wie die anderen Mitbewohner traf Julene immer überpünktlich zu den Mahlzeiten ein, obwohl sie meistens keinen rechten Appetit hatte. Aber auch, wenn Frau Hinrichs abwesend in die Gegend starrte und Herr Knobel sie mindestens zehnmal mit einem „Guten Tag, gnädige Frau!“ begrüsste, boten doch die Mahlzeiten eine Gelegenheit, die Enge des Zimmers zu verlassen und die Anwesenheit der anderen zu erleben.
Während sie auf ihren Teller wartete, spürte sie den Blick des Fremden auf sich ruhen. Sie fühlte sich gemustert, angeschaut, wahrgenommen. Kurz überlegte sie, ob sie hinüber lächeln sollte, aber dazu war sie dann doch zu schüchtern. Dafür biss sie heute mit Genuss in ihr Brot, schmeckte die gesalzene Butter und den würzigen Käse. Erinnerungen kamen in ihr hoch, wie winzige Luftblasen auf einer Wasseroberfläche.
Als Kind war sie vom Spielen heim gekommen, hatte sich die Knie aufgeschrammt oder einmal sogar einen Arm gebrochen. Doch immer, wenn sie am Abendbrottisch mit ihren Eltern und ihren Brüdern gesessen hatte, war jeder Schmerz hinweg geweht gewesen, hatte sie sich einfach nur daheim gefühlt, geliebt und aufgehoben.
Ein jäher Schmerz erinnerte sie daran, wie lange ihre Eltern schon begraben waren, und selbst von ihren Brüdern lebte nur noch einer, weit weg bei seiner Tochter in Lausanne. Sie schluckte ihre Sehnsucht mit dem Tee hinunter, liess sich wieder von Herrn Knott begrüssen und dem Fremden ansehen.
Dies war jetzt ihr Leben, und sie war ja gut versorgt. Das Heim war nicht das schlechteste, die Pflegekräfte bemüht und fleissig, und wenn man auch lange warten musste, wenn man Hilfe beim Waschen und Umziehen benötigte, lag es nicht an dem Unwillen der Pfleger, sondern der vielen Arbeit. Gerade ging Simone wieder von einem zum anderen, um Tee nachzuschenken oder noch mehr Brot zu reichen, und sie tätschelte Julene behutsam auf die Schulter.
„Mögen Sie noch ein Tässchen?“, fragte sie freundlich, und Julene spürte die Wärme ihrer Hand. „Eins gönne ich mir noch“, antwortete sie, und sie fühlte sich wohlig von innen erwärmt.
Julene wusste, dass in dem Heim aus Brandschutzgründen kein offenes Feuer angezündet werden durfte, aber sie vermisste das Adventsgesteck aus duftendem Grün und echten Kerzen, das sie zu Hause jedes Jahr gefertigt hatte. Jetzt flackerte nur ein künstliches Licht vor ihr auf dem Tisch, doch für einen Augenblick kam es ihr nicht mehr so grotesk vor.
Satt und warm trippelte Julene wieder zu ihrem Zimmer, und sie spürte, dass jemand hinter ihr über den Flur ging. Der Mann in Schwarz war da, und er zog ein wenig sein linkes Bein nach. Natürlich, das Zimmer von Frau Pritt war ja neben ihrem gewesen.
Kurz überlegte sie, ob sie noch einen Plausch vor der Schwelle versuchen sollte. Aber wozu? Sie hatte so ein langes Leben hinter sich, hatte so viele Menschen kennen gelernt und mit der Zeit wieder verloren. Wollte sie sich wirklich noch einmal auf etwas Neues einlassen? Wie als eine Antwort gähnte sie herzhaft mit weit aufgerissenem Mund. Genau, sie fühlte sich eigentlich nur müde.
In ihrem Zimmer angekommen suchte sie gleich das stille Örtchen auf. Das war die Kehrseite der zweiten Tasse Tee. Ständig forderte sie jemand auf, etwas zu trinken.
„Damit du nicht dehydrierst“, sagte ihre Tochter gewöhnlich bei den seltenen Besuchen, aber sie hatte bestimmt keine Vorstellung davon, wie anstrengend so ein Toilettengang denn war. Julenes Hände hatten einfach nicht mehr so viel Kraft, und so dauerte es immer, bis sie alle Schichten ihrer Kleidung heruntergezogen hatte.
Während sie so da sass, hörte sie aus weiter Ferne leise Klänge, wie bei einem Glockenspiel. Sie dachte schon, ihr Hörgerät wäre wieder nicht richtig eingestellt, aber das war kein schrilles Fiepen, sondern harmonische Töne, eine richtige Melodie. Und dann hörte sie Gesang, vielfache Stimmen in imposanten Chören. Sie schloss die Augen und lauschte, und als sie sie wieder öffnete, waren sie feucht von Tränen. Und sie war nicht allein.
Der Mann in Schwarz stand plötzlich vor ihr, und zum ersten Mal, ohne Erschrecken, nahm sie ihn wahr mit seiner undurchdringlichen Schwärze unter seiner Kutte.
„Nein!“, sagte sie mit klarer Stimme. „Seit Jahren fürchte ich, dass du mich vergessen hast“, und sie gab sich keine Mühe, den Unmut zu überspielen, „und dann kommst du jetzt, hier, in so einer Situation?“ Und sie sah an sich herab, auf ihre entblössten, mageren Beine.
„Jetzt bin ich nicht bereit. Komm wieder, wenn ich fertig bin, oder noch besser, hole mich im Schlaf!“
„So sei es!“, raunte eine Stimme. Der Mann in Schwarz nickte und verschwand, und Julene ging, langsam und gelassen ihrem Ende entgegen.
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