Blasse Schaukel im Wind
Von: Elisha
Durch das kleine Fenster im Dachgiebel schaue ich hinunter ins Nachbargrundstück. Dort steht das alte Haus, gross und mächtig und ganz mit Holz verkleidet. Daneben erstreckt sich der Garten, mit dem stabilen Klettergerüst, auf dem wir gemeinsam mit den Nachbarskindern so viel getollt sind. Die roten Plastikschaukeln sind etwas verblasst und sehen jetzt eher rosa aus, und unter der rechten ist schon vor langer Zeit die Grasnarbe aufgeplatzt von unzähligen Kinderfüssen, die dort Anschwung genommen haben.
Die alte Pflaume daneben gibt es auch immer noch, auch wenn sich jetzt eine Flechte gelb um die Äste windet. Noch gibt es weder Blätter noch Blüten; so weit ist der beginnende Frühling noch nicht. Aber blasslila Krokusse und übergrosse Schneeglöckchen mit fingerkuppendicken Blüten haben sich schon durch den Boden gekämpft und schwingen jetzt zart im Wind.
„Kirchturmuhren machen Bimbam, Bimbam“, höre ich eine innere Stimme, wie sie unsere Mütter schon zu Kindergartenzeiten mit uns geübt haben. Unwillkürlich schwingt mein Körper von rechts nach links und zurück, gelernt bleibt gelernt. Ich lächle.
Einen Teil des Baumhauses kann ich aus meinem Blickwinkel erkennen. Was haben wir dort viele Sommer verbracht! Lisa und ich hatten unsere Legos dort in grossen Körben zusammengeworfen, damit wir damit bauen konnten, ohne dass die Kleinen Gefahr liefen, sie zu verschlucken. Gut geplant, wären da nicht die penibel sortierten Spezialsteine von Jens dabei gewesen, die wir natürlich in all dem Chaos der Stecksteine nicht mehr wiederfanden.
Oben im Dachgiebel des Nachbarhauses gibt es zwei dreieckige Fenster, hinter denen Lisa und Jens ihre Zimmer hatten. Was war ich an meinem dreizehnten Geburtstag erstaunt gewesen, beim ersten Blick aus dem Fenster eine Riesen-Glückwunschkarte zu entdecken, denn in grossen Buchstaben war „Alles Gute Miriam“ an den Fensterscheiben gegenüber zu sehen gewesen.
Das war auch ungefähr die Zeit, als Jens und ich unseren ersten Kuss erprobten. Er hatte sich nämlich ein Mädchen ausgeguckt, das er wirklich gern küssen wollte. Er hatte aber keine Ahnung, was er dabei beachten musste. Seine Schwester wollte er nicht bitten, also fragte er mich um Rat.
„Ich weiss nicht, ich habe das auch noch nicht gemacht“, sagte ich ihm.
„Können wir es mal ausprobieren?“
„Versuchen können wir es.“ Wir stellten uns gegenüber auf, und ich wunderte mich, wie gross er geworden war. Er überragte mich um eine ganze Kopflänge. Etwas ungeschickt drückte er mir seine Lippen auf den Mund. Beim zweiten Mal liess er unsere Münder aufeinander ruhen.
„Das war okay, würde ich sagen“, murmelte ich danach. „Aber sollte da nicht noch was mit der Zunge passieren?“ Ratlos schauten wir uns an. „Schliesslich heisst es ja Zungenkuss.“ Wir versuchten es noch einmal. „Ich glaube, deine Zunge klebt zu sehr am Gaumen.“
„Und wo soll ich sie sonst hin tun?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Weiss ich auch nicht!“
Bei dem Gedanken daran muss ich lächeln. Das war ja in etwa so erotisch gewesen wie eine Schüssel Cornflakes zu essen. Inzwischen müsste er es besser können; schliesslich hat er es geschafft, eine Frau zum Altar zu führen.
Erstaunlich, wie weit wir es gebracht haben! Selbst Verena, Lisas jüngere Schwester, ist inzwischen ausgezogen und wohnt in einer anderen Stadt. Dabei ist sie in meinem Kopf immer noch das kleine Mädchen, genauso wie meine eigene Schwester. Und auch ich stehe als Gast in meinem alten Zimmer, schlafe nur heute ausnahmsweise in meinem alten Bett.
In dem Moment sehe ich, wie unten Lisa in den Garten kommt. Sie hat uns alle überholt, ist als erste zurückgekommen und wieder in ihrem Geburtshaus eingezogen. Sie beginnt, Gartenstühle herauszustellen, ihr Mann und Vater holen den Tisch nach draussen. Zum Abschluss schiebt sie den Kinderwagen in die windstille Ecke unterhalb des Zauns. Sie blinzelt in den Himmel und winkt mir dann zu, das Zeichen für mich. Wenn der Täufling schon da ist, kann das Kaffeetrinken ja beginnen. Ich stürme aus dem Zimmer.
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