Der lange Hans, der Schneider
Von: Elisha
Es geschah vor langer, langer Zeit in einem kleinen Dorf ganz in der Nähe. Dort lebte eine Frau namens Marga. Sieben Jahre lang hatte sie sich jeden Tag und jede Nacht ein Kind gewünscht, und der Tag, an dem sie ihren kleinen Sohn in die Wiege an der Feuerstelle legte, war der glücklichste ihres Lebens gewesen. Liebevoll strich sie über seine rosige Wange, und unter ihrem Blick lächelte das Kind im Schlaf und schien glücklich im Traumland zu verweilen.
Das Leben hätte schön sein können, wäre das Kind nicht auf seltsame Weise krank geworden. Nur einen Augenblick hatte sie den Jungen am siebten Tag allein schlafen lassen, um Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Dabei hatte sie nicht bedacht, die schwere Feuerzange auf die Wiege zu legen.
Zunächst war es kaum zu bemerken, aber von Tag zu Tag wurde die Haut des Jungen grauer, und das Kind begann zu quengeln und zu greinen, bis es nicht mehr zu schreien aufhörte. Die Mutter flüsterte voller Verzweiflung Zaubersprüche, aber nichts half. Also schaukelte sie die Wiege und trug den Jungen durch die Hütte, immer das laute Weh in ihren Ohren.
So ging es Tag und Nacht, Woche für Woche, und sie fragte sich, wie sie denn die Eier, die ihre Hühner gelegt hatten, auf dem Markt verkaufen solle. Da klopfte es an der Tür, und der lange Hans, der Schneider, stand auf der Treppe. Die Frau dachte bei sich: „Hans, der Schneider, muss ein kluger Mensch sein. Er geht von Haus zu Haus, um zu nähen, und das macht ihn immer gescheiter. Ihn will ich fragen, ob er weiss, was ich tun soll.“ Und so tat sie es. Der lange Hans fuhr sich mit der Hand über die Stoppeln an seinem Kinn und wiegte den Kopf hin und her.
„Weib“, sprach er dann mit ruhiger Stimme, „geh du mit deinen Eiern zum Markt. Ich will hier wachen bei deinem Sohn; er soll nicht versehentlich aus der Wiege fallen.“
Und damit setzte er sich mitten auf den Tisch, wie die Schneider es gewöhnlich tun, und von Zeit zu Zeit stupste er die Wiege mit dem Fuss, damit das Kind schlafen könne. Und während er mit Nadel, Garn und Stoff hantierte, begann er, leise zu summen. Der Junge hob den Kopf, und der Schneider erschrak, weil ihn eine Fratze anstarrte. Unbeirrt summte er weiter, dann sang er eine feine Melodie, die er beim letzten Kirchgang vernommen hatte.
„Schneider Hans“, hörte er eine hohe Stimme und erschrak. Wieder wurde sein Name gerufen, und als er zu dem Säugling hinüber sah, bewegten sich seine Lippen zu der Stimme eines uralten Männchens.
„Was willst du, Sohn?“, fragte er.
„Sing mir ein anderes Lied!“
„Eine traurige Weise oder einen fröhlichen Reigen?“
„Sing etwas Lustiges, damit ich tanzen kann.“
„Tanzen? Du? So ein kleines Kind kann doch nicht laufen!“
„Ich bin nicht der, für den du mich hältst“, kam die Erwiderung, und der Schneider nickte bedächtig.
„So soll es denn sein“, sagte der Schneider und legte das Nähzeug auf seine angewinkelten Knie. Er sang ein paar Töne und schlug im Rhythmus die Handflächen gegeneinander, und das Wesen in der Wiege erhob sich, sprang heraus und bewegte sich über den Steinboden. Es stapfte und stampfte und schwang die Arme durch die Luft. Dann stimmte der Schneider ein neues Lied an, danach noch eines. Er klatschte immer schneller, und der Tänzer hopste und hüpfte dazu und drehte sich immer turbulenter um seine eigene Achse.
Mit einem Mal schnellte der Schneider in die Höhe und sprang vom Tisch, rannte zur Holztür und stiess sie weit auf. Ein Windstoss erfasste den winzigen Tänzer, riss ihn nach draussen und hoch in die Luft, und eine graue Wolke schwebte herbei und umhüllte ihn. Der Schneider sah ihr nach, kehrte dann wieder in die Hütte und hockte sich erneut auf den Tisch.
Als die Frau vom Markt nach Hause kam, fand sie Hans im Schneidersitz beim Nähen auf dem Tisch vor, und zum ersten Mal seit Wochen war es ganz still in der Hütte. Besorgt lugte sie in die Wiege, und da lag ihr wunderschöner Sohn, entspannt mit dem Daumen zwischen den Lippen. Liebevoll strich sie über seine rosige Wange, und unter ihrem Blick lächelte das Kind im Schlaf und schien glücklich im Traumland zu verweilen.
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