Frühlingsahnen
Warum Gedichte? Weil sie destillierte Sprache sind und mit wenigen Strichen erreichen, wozu ein Romancier 200 Seiten braucht. Weil man Zugriff auf das Wurzelwerk der Sprache hat, wenn man Gedichte schreibt, und den Ursprung von Bedeutung erfahren kann und wie sie anschliessend in Blüte und Blätter transportiert wird. Weil sie im Mund leben und mit dem Puls.
Im Frühling
Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel,
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus!
Ach, sag' mir, alleinzige Liebe,
Wo du bleibst, dass ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus.
Der Sonnenblume gleich steht mein Gemühte offen,
Sehnend
Sich dehnend
In Lieben und in Hoffen.
Frühling, was bist du gewillt?
Wann werd' ich gestillt?
Die Wolke seh ich wandeln und den Fluss,
Es dringt der Sonne goldner Kuss
Mir tief bis in's Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun, als schliefen sie ein;
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.
Mein Herz denkt nun dies und denket das,
Erinnert sich, und weiss nicht recht an was,
Halb ist es Lust, halb ist es Klage;
Mein Herz, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
Eduard Mörike (1804-1875)
Frühlingsahnen
Wohlig merken unsre Sinne
Nun den Frühling allgemach,
Denn es trauft aus jeder Rinne,
Und es tropft von jedem Dach.
Leise regt sich im Theater
Dieser Welt ein Liebeston;
Nächtens schreien viele Kater,
Und der Hase rammelt schon.
So auch uns ergreift die Glieder
Wundersame Lebenskraft;
Selbst solide Seifensieder
Fühlen ihren Knospensaft.
Treibet das Geschäft der Paarung!
Lasset der Natur den Lauf!
Denn ihr wisset aus Erfahrung,
Einmal hört es leider auf.
Ludwig Thoma 1867-1921)
«Fürs Fricktal – fricktal24.ch – die Internet-Zeitung»