Sehnsucht nach dem Frühling
Wozu noch Gedichte lesen? Ein Gedicht kann auf engstem Raum alle Register der Sprache ziehen und durchdringen, es biete die grösstmögliche Freiheit – dem Dichter, aber auch dem Leser. Ein Gedicht nimmt sich das Recht, die Dinge so zu denken und zu sehen, wie sie noch nie zuvor bedacht und gesehen worden sind. Ein Gedicht rettet einen Tag.
Sehnsucht nach dem Frühling
O, wie ist es kalt geworden
Und so traurig, öd' und leer!
Raue Winde weh'n von Norden
Und die Sonne scheint nicht mehr.
Auf die Berge möcht' ich fliegen,
Möchte seh'n ein grünes Tal,
Möcht' in Gras und Blumen liegen
Und mich freu'n am Sonnenstrahl;
Möchte hören die Schalmeien
Und der Herden Glockenklang,
Möchte freuen mich im Freien
An der Vögel süssem Sang.
Schöner Frühling, komm doch wieder,
Lieber Frühling, komm doch bald,
Bring' uns Blumen, Laub und Lieder,
Schmücke wieder Feld und Wald!
Ja, du bist uns treu geblieben,
Kommst nun bald in Pracht und Glanz,
Bringst nun bald all deinen Lieben
Sang und Freude, Spiel und Tanz.
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)
Vorfrühling
Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.
Er hat sich gewiegt,
Wo Weinen war,
Und hat sich geschmiegt
In zerrüttetes Haar.
Er schüttelte nieder
Akazienblüten
Und kühlte die Glieder,
Die atmend glühten.
Lippen im Lachen
Hat er berührt,
Die weichen und wachen
Fluren durchspürt.
Er glitt durch die Flöte
Als schluchzender Schrei,
An dämmernder Röte
Flog er vorbei.
Er flog mit Schweigen
Durch flüsternde Zimmer
Und löschte im Neigen
Der Ampel Schimmer.
Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.
Durch die glatten
Kahlen Alleen
Treibt sein Wehn
Blasse Schatten.
Und den Duft,
Den er gebracht,
Von wo er gekommen
Seit gestern Nacht.
Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)
«Fürs Fricktal – fricktal24.ch – die Internet-Zeitung»